Originalartikel: A New Existential War – Part II: Warfare Has Changed, and the Israeli Security Concept Must Change With It
von Maj. General (res.) Gershon Hacohen*, 3. Januar 2024
Kurze Zusammenfassung: Am Morgen des 7. Oktober 2023 kollabierte das strategische israelische Sicherheitskonzept und markierte damit das Ende der 30-jährigen Ära seit den Osloer Abkommen. Mit der schockierenden Kraft eines Erdbebens zerfiel ein kulturelles Konzept, das seine Wurzeln in dem Traum von Frieden und in der Illusion hatte, der Staat Israel könnte danach streben, eine Art Dänemark zu werden, komplett. Wenn Israel im Krieg gegen die Hamas den Sieg erringen will, wird es sein Sicherheitskonzept anpassen müssen, um ein neues und tieferes Verständnis der Wahrnehmung des Feindes über das Wesen seines Kampfes mit Israel zu reflektieren.
Als Folge des 7. Oktobers befinden sich der Staat Israel, seine Gesellschaft und all seine Institutionen an einem kritischen Scheideweg. Ein Weg vorwärts erfordert eine gründliche Untersuchung und Prüfung von allen Dingen, die an diesem Tag schief gelaufen sind, so dass die notwendigen Korrekturen vorgenommen werden können. Der zweite Weg lenkt Israel in Richtung einer umfassenden Ermittlung durch alle Dimensionen und fordert die Formulierung eines neuen und aktualisierten nationalen Narrativs angesichts der existenziellen Herausforderung. Die Frage ist, welcher dieser zwei Wege ist es wert, dass man ihn verfolgt?
Dieser Artikel ist in drei Teile unterteilt. Der erste prüft die Ursachen für das Versagen des 7. Oktobers und Israels Wahrnehmung des Kampfes der Gegenseite. Dieser Artikel, der zweite, beschreibt die Art und Weise, wie sich die israelische Sichtweise auf ihre Sicherheit entwickeln muss, um auf die Wahrnehmung des Kampfes durch die gegnerische Seite eine angemessene Antwort zu haben. Der dritte präsentiert die Komponenten der nationalen Vision und die Handlungsprinzipien, die angesichts der sich abzeichnenden Bedrohungen die Existenz des Staates Israel gewährleisten.
Israels Kühnheit in seinem Bodenangriff als eine Leistung für sich
Es gibt Experten und Berichterstatter, die die Erfolge des gegenwärtigen Krieges mit Skepsis prüfen. Sie verleugnen nicht die Erfolge der IDF in den schweren Gefechten im Gazastreifen, die eine noch nie dagewesene Koordination von Boden-, Luft- und Seekräften einbindet. Jedoch warnen sie vor übermäßigem Enthusiasmus über taktische Erfolge und weisen darauf hin, dass die Hamas-Organisation, ihre Führer und ihre Kämpfer noch nicht gebrochen sind. Sie weisen darauf hin, dass es zu diesem Zeitpunkt noch unklar ist, wie alle Erfolge der IDF in einen greifbaren strategischen Erfolg eingebunden werden können. In der Geschichte der Kriegsführung gibt es klare Beispiele von Armeen, wie beispielsweise die US-Armee in Vietnam, die Schlachten gewinnen, jedoch den Krieg verlieren. Krieg ist ein komplexes und nicht kontrollierbares Phänomen.
Und doch, trotz der Ungewissheit bezüglich der Fortführung des Krieges, seines Ausgangs und der Konsequenzen für die zukünftige Sicherheit des Staates Israel, hat die IDF am 27. Oktober tief in Gaza-Stadt hinein einen Bodenangriff gestartet, sie haben den Rubikon einer Jahrzehnte alten israelischen Befürchtung überschritten, wodurch sie schon an und für sich eine bedeutende Leistung vollbrachten.
Bisweilen haben unsere Gegner, unsere Situation verstehend, auf unsere internen Verwicklungen hingewiesen. In einem Interview vor 14 Jahren beschrieb Bashar al-Assad zum Beispiel die Situation Israels folgendermaßen:
Israel wird mit der Zeit militärisch stärker. … Es hat ein größeres Zerstörungspotenzial, ist aber weniger in der Lage, militärische Ziele zu erreichen, und folglich weniger in der Lage, politische Ziele zu erreichen. Deswegen bewegt es sich von Misserfolg zu Misserfolg. … Heute gibt es kein israelisches System in den Territorien der anderen Seite. Es ist ein strategisches Prinzip. Heute befindet sich Israels System „innen“. Also hat sich die Karte verändert. Israel weiß nicht, wie es mit dieser Karte umgehen soll. (Alaspir, 25. März 2009)
Die Sorge der israelischen Führung in den vergangenen Jahrzehnten bezüglich des Einsatzes von Bodentruppen in feindlichem Territorium stellt eine Krise in der israelischen Sicherheitswahrnehmung dar. Sie spiegelt eine Furcht vor den mit dem Eintritt in einen Krieg verbundenen Ungewissheiten wider und bedeutet grundsätzlich einen Schritt ins Unbekannte. Am Scheideweg, an dem die Entscheidung, eine Offensivoperation mit Bodentruppen zu beginnen, getroffen wird, zögerte die politische Ebene, solch einen potenziell komplizierten Schritt zu tun, weil er einen Kontrollverlust bedeuten und dazu führen könnte, dass das gewünschte Ziel nicht erreicht wird.
Diese problematische Dynamik war in der Operation Cast Lead [Operation Gegossenes Blei] Ende des Jahres 2008 offensichtlich. Es entstand ein Konflikt zwischen dem Ministerpräsidenten Ehud Olmert, der auf ein entschiedenes Vorgehen gegen die Hamas drängte, und dem Verteidigungsminister Ehud Barack, der danach trachtete, die Operation zu beenden, bevor die Dinge ins Ungewisse eskalierten. In diesem Konflikt setzten sich der Verteidigungsminister und der Generalsstabschef durch.
Der Wunsch, ausgedehnte und anhaltende Bodenkriege zu vermeiden, wurzelt tief in der israelischen Kultur. Trotz zahlreicher technologischer Innovationen bei der Ausrüstung für einen Bodenkrieg, verkörpert der Bodenkrieg die grundlegende Natur eines Krieges wie sie in der industriellen Ära verwurzelt war. Es ist eine massive Aktivität, die die physische Reibung mit Terrain und feindlichen Kräften einbezieht, in erster Linie in einer mechanisierten Form. Es umfasst Kämpfe in Staub, Schlamm und Gräben. Eine Gesellschaft, die im High-Tech und Informationszeitalter lebt, fällt es nicht leicht, in die physischen Reibungen eines Bodenkrieges zu investieren.
Angesichts dessen muss die Kühnheit der IDF-Führung und des Kriegskabinetts, die IDF für einen Angriff tief in Gazas dicht bevölkertes, beengtes und befestigtes urbanes Terrain sowohl über als auch unter der Erde einzusetzen – mit einer nie gesehenen Intensität, nicht einmal im Krieg der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten gegen ISIS in Mosul – als Leistung von strategischer Bedeutung angesehen werden. Wie bei einer Pilgerreise, in der die Reise so wichtig ist wie das Ziel, hat der gewagte und entschlossene Weg, den die Streitkräfte der IDF auf ihrem Weg zur Erreichung der Kriegsziele genommen haben, schon eine ganz eigene Bedeutung.
Vor allen Dingen zeigt die Entscheidung, den Angriff auf das Kernstück der Hamas-Herrschaft in Gaza zu fokussieren, welche Bedeutung die urbane Umgebung für die Hamas hat. Die dichte, zugebaute Umgebung spielt eine zentrale Rolle als eine Art kulturell-religiöser Schoß für die Organisation. Professor Yuval Portugali thematisiert in seinem neuen Buch The Second Urban Revolution [Die zweite urbane Revolution] den kulturellen Aspekt des Krieges, der sich auf die Herzen der Städte konzentriert und nennt ihn die „Urbanisierung der Kriegsführung“.
Es stimmt, dass im vergangenen Jahrhundert, besonders im Zweiten Weltkrieg, die Städte zu Schlachtfeldern wurden. Jedoch war die urbane Kriegsführung nur ein Teil des gesamten Kriegseinsatzes. Im Krieg, der von der IDF im Herzen des Gazastreifens geführt wird, dient die Stadt selbst mit ihren reichen kulturellen und religiösen Institutionen sowohl als Front als auch Brennpunkt des Konflikts. Die Fähigkeit der IDF, erfolgreich im Herzen der Stadt zu operieren, sollte als eine Leistung auf höchstem Niveau angesehen werden.
Warum wird der Krieg verlängert und was sollte uns diese Verlängerung über das Sicherheitsverständnis Israels lehren?
Der politischen und militärischen Führung war klar, dass sie auf einen verlängerten Krieg zusteuerten und sie erklärten das von Anfang an. Jedoch fällt es der Öffentlichkeit, darunter auch Veteranen der früheren israelischen Kriege, schwer zu verstehen, warum dieser Krieg länger andauern muss als jeder andere Krieg, den das Land seit dem Unabhängigkeitskrieg erlebt hat.
Als Ben-Gurion das israelische Sicherheitsverständnis formulierte, erkannte er die grundlegende Schwäche des Staates Israel hinsichtlich seiner Fähigkeit, einem längeren Krieg zu trotzen. Dementsprechend erwartete er von der IDF, dass sie Kriege entscheidend und schnell gewinnen und entwickelte eine offensive Kampftruppe mit der Anweisung, jeden Konflikt so schnell wie möglich auf das Gebiet des Gegners zu verlagern. Diese Sichtweise wurde von General Israel Tal in seinem Buch National Security – The Few Against the Many [Nationale Sicherheit – Die Wenigen gegen die Vielen] ausgearbeitet.
Die israelische Notwendigkeit, Kriege schnell zu beenden, wurde klar verstanden und in die Perzeption der Kriegsführung, die von der Hisbollah und der Hamas mit der Rückendeckung des Iran entwickelt wurde, wirksam integriert. Sie formulierten ein Konzept der Kriegsführung, das darauf abzielte, die entscheidenden Fähigkeiten Israels schnell zunichte zu machen. Ihr Konzept beruht auf zwei systemischen Komponenten. Die erste ist ein umfassendes Raketensystem, das die gesamte Tiefe des Gebietes abdeckt und es ermöglicht, für einen längeren Zeitraum effektiv auf israelisches Territorium zu schießen, selbst nachdem die IDF in weite Teile des gegnerischen Gebiets eingedrungen sind. Die zweite beruht auf dichte Verteidigungslinien, die Hindernisse und Sprengkörper bergen, sowohl über als auch unter der Erde, im Herzen von bebauten Flächen der Städte und Dörfer. Unter diesen Bedingungen wird ein schneller Vorstoß in feindliches Gebiet zu einer sehr komplexen Aufgabe.
Nachdem die Panzertruppen der IDF in Konflikten wie dem Sinai- und dem Sechs-Tage-Krieg die erste Verteidigungslinie durchbrochen hatten, drangen sie in feindliches Gebiet vor, indem sie sich Manövrierfähigkeit und Geschwindigkeit zunutze machten und rasche Entscheidungen trafen. Der gegenwärtige Konflikt spiegelt die Art und Weise wider, wie die Hamas und andere Terrororganisationen aus diesen Kriegen gelernt und ihre Verteidigungsstrategien anpassten haben. Das Verteidigungssystem, das sie entwickelt haben, unterscheidet sich von dem, das traditionell im Wüstenkrieg benutzt wird.
Der Feind nahm erhebliche Änderungen an seinen Kommando- und Kontrollmethoden vor. Die Organisation der Kriegsführung der Hisbollah und der Hamas ist tendenziell dezentralisiert, was jedem lokalen Kämpfer erlaubt, unabhängig zu kämpfen, sogar ohne Befehle. In den vergangenen Kriegen hatte die IDF durch ihre gezielte Angriffsführung auf Kommando- und Kontrollzentren direkten Einfluss auf die Schwächung des Gegners, aber das ist nicht länger der Fall.
Seit Jahren hat sich die Kriegsführung auf urbane Gebiete konzentriert – besonders im Fall der organisierten lokalen Netzwerke der Hamas. In der Operation Sinai im Jahr 1956 drang eine relativ kleine Spezialeinheit (ein Aufklärungsbataillon der 37. Division) in den Gazastreifen ein, gefolgt von einer Reserveinfanteriebrigade, die mit Bussen ankamen (Reserve Brigade 11) und eroberte den gesamten Gazastreifen in einer schnellen Aktion. Nach der Kapitulation des ägyptischen Kommandanten vor dem IDF-Brigadegeneral Asaf Simhoni verließen die ortsfremden ägyptischen Soldaten entweder das Gebiet oder ergaben sich. Ähnliche Ereignisse passierten im Sechs-Tage-Krieg, als ägyptische Streitkräfte aus den Delta- und Nil-Regionen Ägyptens als eine Expeditionstruppe ankamen.
Dementgegen ist im aktuellen Konflikt im Gazastreifen die Militärmacht des Gegners in Batallionen und Brigaden organisiert, die sich aus Ortsansässigen zusammensetzen. Die Shejaiya-Batallion wird z.B. zusammengestellt aus Kämpfern und Kommandeuren der Shejaiya-Region, während die Khan-Yunis-Brigade aus Bewohnern von Khan Yunis besteht. Dieses Muster wiederholt sich im ganzen Gazastreifen. Selbst innerhalb der Befehls-Hierarchie sind lokale Verbindungen maßgeblich. Wenn die IDF-Streitkräfte tief in das Gebiet eindringen, können die Hamas-Kämpfer, die vor Ort sind, ihre Positionen verlassen und sich leicht unter die Bevölkerung mischen, bereit, um bei passender Gelegenheit wieder aufzutauchen. Das ist der Grund, warum Operationen, um den Gazastreifen zu räumen oder die Hisbollah im Südlibanon zu bekämpfen, einen umfangreichen Truppeneinsatz und eine längere Dauer erforderlich machen.
Eine weitere signifikante Veränderung ist im religiösen Bewusstsein der Jihadisten verankert, das die Kräfte motiviert, die in den letzten Jahrzehnten aufgebaut wurden, um den Staat Israel zu bekämpfen. Auf die Niederlage der arabischen Armeen im Juni 1967 zurückblickend, sagte Khaled al-Qaradawi: „Dass wir zum Glauben zurückkehren und das Banner des Jihad erheben ist in jedem Kampf lebensnotwendig, aber besonders entscheidend gegen den globalen Zionismus, denn die Zionisten stärken ihre Soldaten mit religiösem Glauben und religiösen Träumen.“ (Uriya Shavit und Ofir Winter, Enemies of My Enemies [Feinde meiner Feinde], 2013, S. 88). In diesem Geist führte Abdullah Azzam, in einem Dorf nahe Jenin geboren, den Kampf der Mujaheddin in Afghanistan. Davon inspiriert wurde die Hamas-Bewegung zwei Tage nach dem Ausbruch der ersten Intifada im Dezember 1987 gegründet. Wenn die IDF der Hamas und der Hisbollah gegenüberstehen, begegnen ihnen islamische Kämpfer, die Gläubige sind, was eine vorher nicht erkannte Herausforderung darstellt.
Um eine neue israelische strategische Perzeption zu formulieren, wird es erforderlich sein, die Gründe für die Verlängerung des gegenwärtigen Krieges und den Charakter der gegenwärtigen Bedrohungn für den Staat Israel zu untersuchen. Dabei wird es notwendig sein, sich von dem Konzept des Rückzugs zu trennen. Dieses Konzept wird noch von früheren hochrangigen Sicherheitsbeamten mit dem Argument aufrechterhalten, dass die IDF mit ihrer technologischen Überlegenheit immer zu dem Siegesmuster des Sechs-Tage-Krieges zurückkehren können, als ob die technische Überlegenheit der IDF bedeutete, sie könnten auf die Notwendigkeit der territorialen Tiefe verzichten und schnell gewinnen, sogar über die Grenzen von 1967 hinaus. Die IDF sind seit Juni 1967 nicht schwächer geworden, jedoch haben sich Israels Feinde verändert. Sie haben sich kreativ weiterentwickelt und sind viel stärker. Das hat entscheidende Auswirkungen auf die Zukunft des Staates Israel.
Der Sieg wird von den Nachkriegsvereinbarungen und von der Beendigung des Konzepts des israelischen Rückzugs aus dem Territorium abhängen
Eine präzedenzlose israelische Koalition hat sich gebildet, die auf die Fortführung des Krieges besteht, bis seine Ziele erreicht sind. Linke wie die Führer der Genfer Initiative für eine Zwei-Staaten-Lösung, wie etwa Oberst Shaul Arieli, bringen diese Forderung zum Ausdruck. Jedoch, trotz der Dringlichkeit, ist die nationalistische Festlegung des Krieges gegen die Hamas von kurzer Dauer. Sie entstand als Reaktion auf eine ernstliche Notlage und scheint bis zu Israels unvermeidlichem Sieg eine vorübergehende Situation zu sein. Es ist zweifelhaft, ob das eine gesellschaftspolitische Richtung für die Zukunft anzeigt. Nur die Zeit wird es erweisen.
Diejenigen, die während einer Krise an die Spitze kommen, gewinnen große Unterstützung und vereinen die Reihen der Kämpfer. Aber abseits des Schlachtfeldes scheint dieser Geist die Führer im gesellschaftspolitischen Diskurs nicht zu beeinflussen. Dieses Engagement für den Krieg mit all seiner Dringlichkeit beruht auf zwiespältigen israelischen Träumen, die sich weiterhin den Siedlungen widersetzen. Fürsprecher der Zwei-Staaten-Lösung, Yossi Beilin und andere eingeschlossen, sehen den Krieg gegen die Hamas als historische Gelegenheit, ihre Vision voranzubringen. Für sie bedeutet das Verschwinden der Hamas-Herrschaft die Beseitigung eines Hindernisses, das der Umsetzung des Plans einer Zwei-Staaten-Lösung im Weg steht. Ihr erneuter Vorstoß für den Plan, der einen weitgehenden israelischen Rückzug aus dem Westjordanland und sogar die Räumung von Siedlungen einbezieht, deckt sich mit den Erwartungen der amerikanischen Regierung.
Die Unterstützung der Idee einer Zwei-Staaten-Lösung durch ehemalige Beamte des Sicherheitsapparats war und bleibt auf der Annahme gegründet, dass selbst bei einem Rückzug auf die Grenzen von 1967 Israel in der Lage sein wird, seine Souveränität und die Sicherheit aller Bewohner mit der eigenen Streitmacht zu verteidigen. Von einem „professionellen“ Standpunkt aus argumentieren sie seit Jahrzehnten, die IDF wären selbst nach Rückzügen immer dazu in der Lage, die Sicherheit Israels zu gewährleisten. Beispielsweise sagt Major General (res.) Dan Halutz in seinem Artikel, in dem er die Forderung der Netanyahu-Regierung nach „verteidigungsfähigen Grenzen“ kritisiert: „Die IDF kann jede Grenze, die die politische Führung festlegt, verteidigen. Es ist erwähnenswert, dass der größte militärische Sieg (nach dem Unabhängigkeitskrieg) im Jahr 1967 errungen wurde, und zwar an der Grenzlinie, die von der Regierungsführung heute präsentiert wird als nicht zu verteidigen …“ (Yehidoth Ahronoth, 16. Januar 2015)
Im Vorfeld des Rückzugsplans aus dem Gazastreifen im Frühjahr 2006 machte Haim Ramon in einem Gespräch mit Ari Shavit eine überraschende Aussage: „Ich glaube, dass es (nach dem Rückzug) ruhig bleiben wird, aber lassen Sie uns annehmen, es gäbe Krieg. Welche Art von Krieg wird das sein? Die IDF mit all ihren Fähigkeiten gegen 3000 – 4000 Mitglieder der Hamas, die mit nichts bewaffnet sind? Wenn die Palästinenser eine Bedrohung darstellen, werde ich das Westjordanland in 24 Stunden erobern. Und warum weiß ich das? Weil es das ist, was ich in der Operation ‚Defensive Shield‘ getan habe … Ich habe das Territorium zurückerobert und die Palästinensische Autonomiebehörde innerhalb eines Tages gestürzt.“ (Haaretz, 18. Juni 2006)
Der Denkansatz der Rückzugsbefürworter hat einen konzeptionellen Rahmen, der auf vier Prinzipien aufgebaut ist:
1. Die territoriale Trennung und die Räumung von Siedlungen wird gemeinsam mit der Festlegung von Grenzen die Reibungspunkte reduzieren und eine Entwicklung in Richtung Stabilität schaffen. Wie Botschafter Martin Indyk zitieren sie das Sprichwort: „Gute Zäune schaffen gute Nachbarn.“
2. Wenn die Stabilität untergraben wird bis zu dem Punkt von nicht tolerierbaren Bedrohungen der Sicherheit, kann die politische Führung die notwendige Entscheidung treffen und die IDF einsetzen, um der Bedrohung in der Tiefe des Gebietes, von dem sie sich zurückgezogen haben, entgegenzuwirken.
3. Der israelische Rückzug aus dem besetzten Gebiet in Verbindung mit dem Einverständnis der internationalen Gemeinschaft, das Ende der Besatzung anzuerkennen, wird Israel die internationale Legitimität für militärische Maßnahmen verleihen, sollte das notwendig werden.
4. Mit ihrer andauernden Überlegenheit können die IDF der Herausforderung begegnen und einen entscheidenden Sieg in wenigen Tagen herbeiführen.
Der am 7. Oktober ausgebrochene Krieg beweist, dass diese Annahmen durch und durch fehlerhaft sind. Der spezielle Sicherheitszaun im Gazastreifen hat den Krieg nicht verhindert und nicht einmal den schnellen Angriff der Hamas verzögert. Der Entscheidungsprozess der israelischen Regierung, eine Offensive zu starten, war schwierig und komplex. Die große Verwirrung an der nördlichen Grenze zeigte auch, wie herausfordernd die Entscheidung für die Führung ist, in die Offensive zu gehen. Die versprochene internationale Legitimität ist weit davon entfernt, umgesetzt zu werden – ganz im Gegenteil – und vor allem haben die IDF keine Möglichkeit, einen schnellen Sieg zu erringen.
Der Sieg wird einen langen und langwierigen Krieg erforderlich machen, voller Schwierigkeiten und Komplexitäten. Hochrangige Sicherheitsbeamte, die eine Zwei-Staaten-Lösung unterstützen, argumentieren, dass der palästinensische Staat, der im Westjordanland entstehen wird, schwach sein wird. Doch angesichts der Veränderungen, die im Phänomen der Kriegsführung in Kriegsgebieten auf der ganzen Welt und besonders im Gazastreifen offengelegt wurden, ist dieses Versprechen, wie die Widerstandsfähigkeit der Hamas zeigt, hohl.
Seit mehr als einem Jahrzehnt habe ich mich mit Befürwortern des Rückzugs auseinander-gesetzt und versucht, ihre Sichtweise als distanziert und gefährlich darzustellen. Ich gründete meine Argumente auf umfangreiche Recherche, veröffentlicht von dem Begin-Sadat Center for Strategic Studies im Januar 2019 unter dem Titel: „Withdrawal from Area C in Judäa und Samaria: An Existential Threat“ [Der Rückzug aus der Zone C in Judäa und Samaria: Eine existenzielle Bedrohung].
Diese Recherche umriss die Grundlagen eines Szenarios wie den plötzlichen Angriff durch die Hamas am Morgen des 7. Oktobers. Sie bezog sich auf die Kriegsdoktrin, die unter iranischem Einfluss absichtlich von der Hisbollah und der Hamas entwickelt wurde. Meine Behauptungen basieren auf einer Analyse der Ausprägungen der neuen Form der Kriegsführung, die im 21. Jahrhundert aufgetaucht ist, und betonen die entscheidende Notwendigkeit der territorialen Tiefe im Verteidigungsfall. Die Veränderungen des Phänomens der Kriegsführung, besonders solche, die aus dem Russland-Ukraine-Krieg übernommen wurden, stellen zusätzliche Überlegungen an, die auf die Notwendigkeit einer israelischen Kontrolle über wichtige Gebiete in Judäa und Samaria und im Jordantal hinweisen.
Die sich entfaltende Realität seit Beginn des Krieges am 7. Oktober im Gazastreifen und an der nördlichen Grenze stellt eine praktische Veranschaulichung meiner Aussagen in dieser Recherche dar. Angesichts der Veränderungen in moderner Kriegsführung erscheinen die Befürworter des Rückzugs an einer chronischen Überschätzung der Fähigkeiten der IDF zu leiden und an einer ähnlich gefährlichen Unterschätzung der Fähigkeiten der Feinde.
Die laut ihrer Bewertung vermeintliche Stärke der IDF führt sie zu der Überzeugung, dass die IDF immer in der Lage sein werden, ihre großen Erfolge zu wiederholen, wie beispielsweise im Juni 1967. Aber im Grunde war der Krieg 1967 der letzte militärische Zusammenstoß nach dem Vorbild des Zweiten Weltkrieges. Seitdem hat sich die Welt der Kriegsführung komplett verändert. Einen Sieg nach überholten Mustern erreichen zu wollen ist so, als ob man verlangte, dass sich das Rote Meer noch einmal teilt.
*Gershon Hacohen diente 42 Jahre lang in den IDF und befehligte Truppen im Kampf an der ägyptischen und syrischen Front. Er war Korpskommandeur und Kommandeur der IDF-Militärschulen.
Übersetzung: faehrtensuche