Urija Bayer – Möge seine Erinnerung ein Segen sein

Originalartikel: How a German-Christian soldier became a hero in Israel’s Gaza War

von: Hila Timor Ashur, 1. Februar 2024

Wie ein deutsch-christlicher Soldat ein Held in Israels Gaza-Krieg wurde

Die einzigartige Geschichte von Urija Bayer, einem israelisch-deutsch-christlichen Kampfsoldat der IDF-Maglan-Kommandoeinheit, der im Kampf in Gaza gefallen ist

Jeden Morgen hallt das Dröhnen der Artillerie-Kanonen in der nördlichen Stadt Ma’alot-Tarshiha wider. Immer mal wieder ist es eine düstere Erinnerung an den Krieg, der täglich an der Nordgrenze Israels ausgetragen wird. Eine Metallschranke blockiert den Eingang zu dem schmalen Durchgang, der diejenigen, die zum Trösten der Trauernden kommen, darauf hinweist, ihr Auto in einer anderen Straße zu parken und zu Fuß zum Haus zu kommen. Die Familie kommt gerade aus der ‚Shiva‚ oder der eine Woche andauernden Trauerzeit der Familie.

Die Fotos des Sergeanten First Class Urija Bayer sind noch an der Schranke angebracht. Er war ein Kampfsoldat in der Elitekommandoeinheit Maglan, der am 14. Dezember während eines Kampfes im südlichen Gazastreifen schwer verwundet wurde. Er war erst 20 Jahre alt, als er an seinen Verwundungen starb. Ein handgeschriebenes Schild ist am Eingang der Straße angebracht: „Geliebte Soldaten, wir hoffen und beten für eure Sicherheit.“ Es ist mit einem roten Herzen und Davidsternen verziert und die ganze Straße entlang wehen israelische Fahnen im Wind.

Tarabin, ein Repräsentant der Abteilung für Familien und Gedenken des Verteidigungs-Ministeriums sitzt Nelly und Gideon, Urijas Eltern, gegenüber. Er erklärt den neu Trauernden ihre Rechte. Leika, ein schwarzer ausgebildeter Hund liegt auf dem handgewebten Teppich, eine Arbeit von Nelly. Yonah, eine schwarzweiße Katze, die ihre älteste Tochter Rachel diese Woche mitgebracht hat, spielt mit einem Tischtennisball unter den Beinen der Gäste. Das Wohnzimmer ist randvoll mit Kränzen, die meisten davon sind leuchtend orangefarbene Sternblumen, passend zu den orangefarbenen Vorhängen. Gideon, Urijas Vater wiederholt den Satz, den er gegenüber so vielen Besuchern, die gekommen sind, um die Trauernden während der sieben Tage andauernden Shiva Trauerzeit zu trösten: „Gott macht keine Fehler, es ist nur so, dass wir ihn nicht immer verstehen.“ Er fragt die Repräsentanten des MOD [Ministry of Defense – Verteidigungsministerium], ob sie irgendwelche Erwartungen an sie als trauernde Eltern am Memorial Day [Gedenktag für gefallene Soldaten] hätten. Der Repräsentant, Tarabin, ein Druse, berichtet, dass die Menschen aus seinem eigenen Dorf erst in den letzten Jahren damit begonnen hätten, das Grab der Gefallenen zu besuchen: „Das hängt von dir ab.“

Die Mutter, Nelly, eine zierliche und hübsche Frau, sagt, dass sie ein einfaches Grab möchte. „Genau wie das Dorf, in dem ich in Deutschland aufgewachsen bin. Mit vielen schönen Blumen. Er war so schön, dass wir Kinder gerne dort auf dem Friedhof gespielt haben.“ Gideon ergänzt: „Ich ziehe es vor, so lange zu warten, wie es nötig ist, damit der Grabstein von guter Qualität sein wird, nicht einer, der zerbröckelt und auseinanderfällt.“

Nelly und Gideon besprechen sich auf Deutsch. Dieses deutsch-christliche Paar wird von einem drusischen Repräsentanten der IDF beraten bezüglich des Grabes ihres Soldatensohns, ein Kämpfer einer Eliteeinheit der IDF. Gideon spricht Hebräisch ohne Akzent, gewürzt mit modernem Slang. Im Alter von zwei kam er mit seinen Eltern, Yochanan und Kristal, nach Israel, die 1972 über die deutsch-christliche Organisation „Zedeka“ hierher gesandt wurden.

Das Ziel der Organisation war die Errichtung eines Feriendorfes für Holocaust-Überlebende im Moshav Shavei Zion nahe des nördlichen Küstenortes Nahariya. Dann fuhr die Gruppe fort, das Seniorenwohnheim Beit Eliezer in Ma’alot-Tarshiha zu errichten, wo die Großfamilie als Team mit christlichen Volontären aus Deutschland arbeiten und hochwertige Dienste für die Holocaust-Überlebenden anbieten. Die Gasse gleicht einem kleinen Kibbuz, wo die Familie neben dem Altersheim lebt. Die betagten Bewohner, die Holocaust-Überlebenden, bezahlen nach ihren finanziellen Möglichkeiten. Die Familienmitglieder bekommen für ihre Arbeit ein kleines Budget, wie alle Volontäre. Die Arbeit wird von der Organisation in Deutschland finanziert.

Die Fliege mit einem gebrochenen Bein“

Vor dreieinhalb Jahren, nach Ausbruch der Covid19-Pandemie, habe ich die Familie interviewt. Damals schützten sie die Holocaust-Überlebenden vor der Pandemie und schlossen sich zusammen mit ihnen in das Seniorenwohnheim ein. Nun kehre ich zu ihnen zurück, nachdem sie gerade ihren kostbarsten Schatz verloren hatten. Urija, der vierte von ihren fünf Kindern, wurde im Krieg im Gazastreifen getötet. Durch das ganze Interview hindurch, lehnten sich Nelly und Gideon aneinander und von Zeit zu Zeit umarmten sie sich auch. Sie trösteten einander, indem sie sich an ihren Familienhumor klammerten und Tränen vergossen.

Sie lieben es, bescheiden und weit entfernt vom Rampenlicht zu leben, waren aber einverstanden, als Teil ihrer allgemeinen Berufung interviewt zu werden. „Tröstet, tröstet Mein Volk, Sagt eurer Gott“, heißt es im Buch Jesaja, was für sie ihren grundlegenden Auftrag unterstreicht, das Volk Israel zu trösten, sogar in seinen schwersten Zeiten. Sie hoffen aufrichtig, dass dieses Interview wenigstens etwas Hoffnung gibt.

Urija hatte eine enge Beziehung zu seiner Mutter, erzählt Nelly und schickt ihren Mann, um ein orangefarbiges Hemd anzuziehen. „Du solltest gut aussehen, so wie ich dich mag. Orange ist meine Farbe. An unserem Hochzeitstag hatte ich auch einen organgefarbigen Blumenstrauß. Als Odelia und Rachel sich der Palchatz-Einheit der IDF (Akronym für die Rettungs- und Sicherheitskompanie HTA) anschlossen, war das die Farbe ihrer Dienstmütze. Als ich sein orangefarbiges Hemd fand, lachten wir und sagten, dass wir auch zu Rescue & Safety [Rettung & Sicherheit] gehören.“

Urija war von Natur aus ruhig und sie mussten sicherstellen, dass er seinen fairen Anteil an Aufmerksamkeit bekam. Ein hübscher Junge, der seiner Mutter gelbe Blumen mitzubringen pflegte, Sauerampfer, und am Hochzeitstag seiner älteren Schwester, Rachel, überreichte er ihr einen riesigen Strauß schöner gelber Blumen.

„Er war einfühlsam. Ungefähr vor vier Monaten begann ich, im Hof einen Garten anzulegen und wenn er mich von der Armee aus anrief, fragte er, wie es mit dem Garten vorwärts ginge. Er versprach: ‚Wenn ich auf Urlaub von der Armee heimkomme, werde ich dir helfen.‘ Das ist ihm nicht gelungen“, sagt Nelly. Sie trägt seine Erkennungsmarke über ihrem geblümten Kleid. „Im Kindergarten sprach er ein ganzes Jahr lang nicht, lächelte nur und spielte. Sie wollten ihn nach Haifa zum Hörtest schicken. Ich erzählte ihnen, dass er alles verstünde und dass Gideon einen Hörtest mit ihm zu Hause machen würde.“

„Es war extrem einfach“, sagt Gideon, „ich öffnete eine Tafel Schokolade, er hörte das Rascheln des Papiers und kam sofort, um ein Stück von der Schokolade zu bekommen“, lachen sie. Nelly fährt fort: „Sie bestanden auf einen Hörtest. Ich sagte, ‚Okay, wir werden einen für euch machen‘, aber es war klar, dass alles in Ordnung war.“

Eines Tages saß der kleine Urija auf dem Balkon und las: „Mutti, Mutti, ich helfe einer Fliege, ihr Bein ist gebrochen.“ Nelly erinnert sich, wie sein Vater kam, um der Fliege zu helfen. Genau wie seine Brüder und Cousins wuchs Urija mit den Bewohnern des Altersheims auf. Er kannte sie alle, und sie nahmen alle Mahlzeiten gemeinsam im Speisesaal ein. Freitags sprachen sie zusammen den Kiddush und sangen hebräische Lieder.

Eines Tages, als Urija seinen Eltern half, entdeckte er eine Kolonne Ameisen, die auf dem Weg hinauf am Eingang des Altersheims war. Er bestand darauf, den Ameisen, „die äußerst hart arbeiteten“, zu helfen, denn eine kleine Ameise trug einen schweren Stock und er musste ihr einfach. Als er aufwuchs, liebte er es, zu Hause zu sein. „Wie Ya’akov, der daran gewöhnt war, in Zelten zu verweilen.“ Er ging auch mit Freunden raus, aber nicht mit derselben Intensität wie seine Brüder. Er mochte weder lesen noch lernen, aber trotzdem bewältigte er seine Schule mit einem charmanten Lächeln. Und die ganze Zeit über träumte er davon, in der geheimen Duvdevan-Eliteeinheit zur Terrorismusbekämpfung zu dienen.

Auch die Bewohner haben einen Enkel verloren

Nelly kam als Volontärin nach Beit Eliezer. „Nach nur sechs Monaten wusste ich bereits, dass ich Gideon heiraten würde. Ich muss voller Überzeugung gewesen sein, dass er der war, zu dem Gott mich geschickt hatte,“ sagte sie. Als sie heirateten, entschlossen sie sich nicht sofort, in Israel zu bleiben. Gideon erklärte, dass sie sicher sein wollten, an dem für sie von Gott bestimmten Platz angekommen zu sein. Schließlich gründeten sie ein Heim in Israel und redeten mit ihren Kindern bis zum Kindergartenalter Deutsch. Als sie in den Kindergarten kamen, begannen sie Hebräisch zu lernen, aber bis heute spricht Nelly mit ihnen Deutsch. Die älteren Mädchen fanden es zuerst schwierig, sich daran zu gewöhnen, in zwei Sprachen zu reden. Für die jüngeren Kinder war es viel einfacher, denn sie lernten voneinander. „Wir wollten nicht, dass Deutschland etwas Fremdes für sie ist. Gewöhnlich flogen sie jedes zweite Jahr einmal zu Besuch nach Deutschland, auch Urija.“

F.: Die Kinder wollten nie weggehen und woanders leben?

Nelly: „Sie wussten von klein auf, dass dies unser von Gott bestimmter Platz ist, das war ihnen völlig klar.“

Gideon: „In unserer Familie sprechen wir frei über alles. Du kannst alle Fragen stellen und die entscheidenden Antworten bekommen. Es war ganz klar für sie, warum wir hier sind.“

Warum? Was habt ihr den Kindern erzählt?

Nelly: „Wir helfen den älteren Menschen. Sie haben das auch erlebt und erfahren.“

Gideon erinnert sich daran, wie Urija eines Tages aus der Grundschule kam, nachdem er über den Holocaust gehört hatte und er war darüber äußerst aufgewühlt. „Ich fragte ihn: ‚Sag mir, möchtest du Holocaust-Überlebende treffen?‘ Er sagte ‚ja‘. Ich sagte ihm: ‚All unsere Bewohner sind Holocaust-Überlebende.‘ Er fragte die Großmutter dieses, den Großvater jenes und dann fiel der Groschen über den Holocaust. Sie waren für ihn wie Familie.“

Nelly: „Während der Shiva, kamen zwei Bewohner zu uns, um uns zu trösten.“

Gideon: „Eine von ihnen hatte am folgenden Tag Geburtstag und sie sagte, sie sei nicht in der Lage, zu feiern oder Menschen zu haben, die ihr singen. Die Bewohner fühlten, als ob auch sie einen Enkelsohn verloren hätten.“

„Bevor er zur Armee ging, besuchte er eine vorbereitende Militärakademie. ‚Hitzim‘ (Pfeile) ist eine vorbereitende Militärakademie mit einem dreimonatigen Kurs, der zu den messianischen Juden in Israel gehört und dort begann er wirklich aufzublühen“, sagte Gideon. „Plötzlich entdeckte er, dass er in der Lage wäre, etwas zu tun und das führte zu einer Veränderung.“

Nelly: „Er übernahm Verantwortung und nahm verschiedene Aufgaben wahr.“

Gideon: „Er blühte auf. Er bekam eine Vorladung für den gibbush (ein rigoroses Auswahlverfahren für IDF-Eliteeinheiten) für die Fallschirmjäger, er wollte Duvdevan, und als er von Maglan akzeptiert wurde, war er plötzlich zufrieden. Er bekam zweimal eine Auszeichnung für herausragende Leistungen. Jeder war überrascht und wir waren froh, dass er endlich seinen Platz gefunden hatte.“

Die Kinder sind im Reservedienst

Am Morgen des Schwarzen Sabbats am 7. Oktober, weckte Urijah seine Mutter um 7:15 Uhr morgens und bat sie, ihn nach Nahariya zu bringen. „Weder ich noch Urija sind die gesprächigsten Menschen am Morgen“, lächelte sie, „ich wollte weiter schlafen, ich bat ihn, seinen Vater zu bitten und er antwortete, dass Vater schon mit dem Fahrrad unterwegs sei. ‚Okay, dann‘, antwortete ich ihm. ‚Wenn Vater nicht zu Hause ist, dann werde ich dich bringen.‘ Ich hatte keine Idee, was vor sich ging. Alles schien ruhig und friedlich zu sein. Ich war ruhig.“

Es war nur eine Sache von ein paar Stunden, als auch Zuriel einberufen wurde, er absolviert gerade seinen regulären Dienst in einer Eliteeinheit, die Mädchen, Odelia und Rachel wurden auch zum Reservedienst berufen und das Ehepaar Bayer fand sich mit vier Kindern wieder, die zum Dienst einberufen wurden. Sie waren gezwungen, die Heimbewohner des Seniorenwohnheims aufzufordern, in das Kellergeschoss – den geschützten Raum – zu gehen und die Reservisten blieben auf dem oberen Stock. „Ich habe gebetet und gebetet. Plötzlich konnte ich nicht mehr arbeiten und ich wollte ein Schild machen für die Soldaten, das, was gerade an der Straße hängt, meine Idee, die von deutschen Volontären umgesetzt wurde,“ sagt Nelly.

Wie habt ihr es geschafft, in Kontakt zu bleiben – von dem Augenblick an, wo sie einberufen wurden?

Gideon: „Er war sporadisch. Sie waren meist ohne Telefon.“

Nelly: „Er gab mir eine Halskette mit dem Emblem von Maglan und sie ist kaputtgegangen. Während unseres ersten Telefongesprächs erzählte ich ihm das und er beruhigte mich und sagte, er würde mir eine neue Kette kaufen. Einmal fiel der Knopf an seiner Uniform ab. Wir haben eine Sammlung alter Knöpfe in der Wäsche und wir trafen die Entscheidung, ihn mit einem speziellen Knopf ohne Armeeabzeichen zu ersetzen. In einem anderen Telefongespräch erzählte er mir, dass er immer, wenn er mich denkt, diesen speziellen Knopf drückt.“

Ein Schatten zieht an Nelly und Gideon vorbei, Tränen rollten ihnen über die Wangen. Um 12:30 Uhr am 14. Dezember erhielten sie einen Telefonanruf, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass Urija schwer verwundet worden sei. Ein Taxi wurde geschickt, um sie abzuholen und sie auf einer dreistündigen Fahrt in das Soroka Medical Center nach Beersheva zu bringen. „Die Armee behandelte uns als eine Familie. Nicht ‚wie‘, sondern ‚als‘ Familie, betont Nelly.

Die letzte Frage, die ich Micha Bayer, Gideons Bruder in einem Interview vor dreieinhalb Jahren gestellt hatte, war, ob seine jungen Kinder zur Armee gehen würden. „Sicher,“ antwortete er, „meine Neffen haben wichtige Positionen in der Armee.“

Die Neffen gehören zu den Kindern des älteren Bruders Shlomo, der mit seiner Familie in Shavei Zion lebt. Während der COVID19-Pandemie blieb die Familie von Nelly und Gideon außerhalb des Seniorenwohnheims, damit sie während des Lockdowns Versorgungsgüter zu der ‚Belagerten Einrichtung‘ bringen konnte. Die älteren Kinder waren bereits in der Armee und stellten so eine Infektionsgefahr dar.

„Für die Kinder war es klar, dass sie zur Armee gehen würden, für ihre Eltern war es etwas weniger klar, für ihre Mutter überhaupt nicht,“ lächelt Gideon. „In meiner Generation gab es für uns keine so bedeutungsvolle Positionen in der Armee. Ich bin der einzige in der Familie, der einberufen wurde. Es gab ein Verfahren und sie entließen mich. Ich verstand, dass ich von größerer Bedeutung für das Seniorenwohnheim wäre als nur eine unwichtige Rolle in der Armee einzunehmen. Wir halten die Kinder weder davon ab noch kontrollieren wir sie. Wir lieben den offenen Dialog. Es ist das Recht des Kindes etwas zu entscheiden, das sich von der Meinung seiner Eltern unterscheidet, und er wird trotzdem zu Hause ein äußerst geliebter Mensch bleiben.“

Nelly: „Die älteste Tochter, Rachel, wollte als Sanitäterin in der Armee dienen und sie diente bei der Luftabwehr Hagnash. Langsam, aber sicher, habe ich zu lernen begonnen.“

Gideon: Nach drei Monaten wollte sie in eine Kampfeinheit und sie stieß bei allen, auch bei der Gemeinschaft im Ausland, auf Widerstand. Ich sagte: ‚Es ist kein Problem, wenn du zu einer Kampfeinheit gehst, ich bin nur nicht darauf vorbereitet, dass Mädchen wie Jungen sein wollen. Du sollst das geben, was du kannst, aber kopiere nicht die Jungen.‘ Wegen dieses Widerstands war sie unsicher. Ich sagte ihr: ‚Reich eine Bewerbung ein und dann lass Gott entscheiden. Wenn Gott möchte, dass du zu einer Kampfeinheit gehst, dann wirst du gehen. Und wenn nicht – dann nicht.‘ Sie hat sich beworben und sie wollten sie sofort nehmen. Ich weiß, dass Gott das so arrangiert hat. Ich weiß nur nicht wie. Ich weiß, dass Gott sie diesen Weg geführt hat. Nur ER weiß, warum das gut ist, meine Sicht ist viel begrenzter. Ich weiß nicht, warum A-B-C passiert. Das bedeutet nicht, dass ich das verstehen muss. Ich glaube nur, dass das der richtige Weg ist. Als Eltern, ich weiß nicht, dass wir irgendjemand gehen lassen und irgendetwas tun müssen.“

Nelly: „Als Yonathan, Shmuels Sohn, zum Militär ging, und dann Yair und dann Rachel, fand ich es sehr schwierig. Ich empfand es als sehr hart, mit allem fertigzuwerden. Ich komme aus einer Familie von Deutschen mit russischer Abstammung. Ursprünglich lebten wir an der Grenze zur Krim, und dort gewährte Katharina die Große meiner Familie – solange sie blieb, um das Land in Glauben und Loyalität zu bearbeiten – eine Befreiung vom (Militär-) Dienst. Ich bin aufgewachsen, nur das Gute zu tun, nicht Krieg zu führen. Nach und nach begreife ich, dass der Vers aus den 10 Geboten ‚Du sollst nicht morden‘ im Deutschen übersetzt ist mit ‚Du sollst nicht töten‘, und zwischen diesen beiden gibt es einen erheblichen Unterschied. Im Hebräischen heißt es: ‚Du sollst nicht morden.‘ ‚Du sollst nicht töten‘ – das ist die Notwendigkeit, dich selbst zu verteidigen und nicht ‚Du sollst nicht morden,‘ „Ich habe auch die Vereidigungsformel der Armee als schwierig empfunden, aber als ich zu Rachels Vereidigungszeremonie kam, war es wirklich eine erhebende Erfahrung und das war ein Zeichen für mich. Es waren 500 Menschen in der Menge und du hättest eine Stecknadel hören können und der Rabbiner las aus dem Buch Josua, ‚Das ist euer Land.‘ Es war so, als ob ich eine Botschaft direkt von Gott bekommen hätte und ich sagte ihm, ‚Gott, die Kinder gehören dir.’“

Wie hat eure Familie in Deutschland reagiert?

Wow, wow, wow,“ seufzten beide, „sie haben es sehr schlecht aufgenommen.“ Gideon erklärt: „Sie waren vom Pazifismus der Vergangenheit überwältigt und sie reagierten auch aus Unwissenheit. Aber je mehr sie sahen, was die Mädchen taten und dass sie nicht überall loszogen um Menschen zu töten, ganz im Gegenteil – sie halfen Menschen , änderten sie ihre Meinung. Odelia nahm in einem Film über Frauen in der Armee teil und das half ihnen zu verstehen. Sie sahen, dass sie nicht ihren Glauben und ihren Auftrag aufgegeben hatte. Ganz im Gegenteil.

„Wenn wir im Aufenthaltsraum saßen, erklärte ich Freunden der Gemeinde, es ist in Ordnung, wenn ihr gegen Waffen seid, gegen die Armee, ich habe kein Problem damit. Kommt und setzt euch mit mir in den Aufenthaltsraum und wir werden sprechen. Wenn sich die Armee von der Grenze weg bewegen würde, wäre es keine Frage, ob sie uns abschlachten würden oder nicht, sondern nur, wann sie kämen und es täten. Vor dem 7. Oktober war das allerdings alles Theorie. Nach dem schrecklichen Massaker, nachdem niemand sie provoziert hatte, gab es wirklich keine Ausflüchte mehr. Das war eindeutig, was dort passierte. Die Tatsache, dass sie ihre Kinder im Militärdienst erlebten, gab ihnen eine komplett andere Sichtweise. Wir haben viele Rückmeldungen aus der Gemeinde erhalten, dass sie sehr stolz auf Urija sind. „Was meinen Glauben betrifft, kann ich nicht begreifen, wie jemand sagen kann, er liebt Gott, aber das Volk Israel liebt er nicht. Ich möchte nicht, dass jemand das Volk Israel liebt, weil es ein perfektes Volk ist, das nie Fehler macht, sondern weil Gott es liebt,“ ist Gideon überzeugt.

F.: Mich würde interessieren, warum ihr euch entschieden habt, ‚Shiva‚ zu sitzen?

Nelly: „Wir waren an Großmutters Beerdigung in Deutschland und es war eine äußerst unangenehme Erfahrung.“

Gideon: „Ich bin mit Beerdigungen und Shiva aus dem Altersheim vertraut, aber hier [in Deutschland] ließen sie den Sarg in den Erdboden hinab und bedeckten ihn nicht mit Erde. Sie überließen das den Arbeitern. Ich erklärte ihnen, dass ich aus einem Land komme, wo es wirklich eine Ehre ist, an der Handlung, den Sarg mit Erde zu bedecken, teilzunehmen. Ich blieb zurück, um zu helfen, den Sarg zu bedecken und sie verstanden es einfach nicht. Dann gingen sie heim und jeder ging seinen eigenen Weg. Es war vorbei und erledigt, einfach so. Es war uns klar, dass der Brauch der Shiva allen Seiten zugute kommt – sowohl denen, die ihre Liebsten verloren haben als auch den anderen Menschen aus der Umgebung.“

Nelly: „Während der Shiva kamen religiöse Frauen herein, sie waren zögerlich. Ich kannte sie nicht und deswegen ging ich auf sie zu. Sie kamen, um uns zu erzählen, dass genau zu der Zeit, als unser Urija getötet wurde, ein Baby geboren worden war, und dann haben sich die Eltern entschlossen, ihrem Baby den Namen ‚Urija Israel‘ zu geben. Das war äußerst bewegend.

„Ich war überrascht, wie viele Menschen kamen, um mit mir zu trauern. Wir erleben das sogar noch intensiver mit unseren Freunden aus Deutschland. Sie haben keine Schulter, wo sie sich ausweinen können. Wir werden wahrscheinlich für eine zusätzliche Woche nach Deutschland fliegen, um eine zusätzliche ‚Shiva‘ für sie zu halten.

F.: Wie würdet ihr eure Gemeinschaft definieren?

„Wir sind nicht Teil einer messianischen Gemeinschaft,“ Gideon versucht etwas zu definieren, was er nicht wirklich definieren möchte. „Wir gehören keiner speziellen Gruppe an. Wir glauben an die Bibel (Tanach) und an das Neue Testament.“

Ihre Gemeinschaften sind in Deutschland und Kanada lokalisiert, und von dort kommen die Volontäre. Bei ihrer Vereidigung erhielten die Jungen, Zuriel und Urija, einen Tanach, der mit einem Neuen Testament zu einem Buch zusammengebunden und auf Englisch geschrieben war. Sie waren äußerst stolz darauf.

„Wir sind nicht hierher gekommen, um für das zu büßen, was die Deutschen getan haben, weil das nicht etwas ist, für das man büßen kann. Wir sind aus Liebe zum Volk Israel gekommen. Ich komme nicht als neutrale Person – ich komme als Deutscher, dessen Volk den Juden unermessliche Schmerzen und Leiden zugefügt hat,“ ergänzt Gideon. In den vergangenen Monaten hat er daran gearbeitet, das Altersheim auf 72 Betten nach deutschem Standard (ein Bett pro Raum) zu erweitern und das Gesundheitsministerium hat das für uns genehmigt“, erklärt er mit großem Stolz.

Warum sollten sie es nicht genehmigen?, frage ich. Nelly lacht als ob ich nicht vertraut wäre mit der schwerfälligen bürokratischen Vorgehensweise der Regierungsbehörde, und dann zwinkert sie Gideon zu: „Was, das bedeutet, dass wir nicht zusammen in denselben Raum sein werden?“

F.: Warum Holocaust-Überlebende aus allen Völkern?

„Die Idee der Organisation ist, zu versuchen, etwas Gutes für die Überlebenden zu tun wie der barmherzige Samariter aus dem Neuen Testament, Öl in ihre Wunden zu gießen, sie zu verbinden und diese Menschen zu trösten, die solches Leiden ertragen haben.“

F: Was werdet ihr tun, wenn es keine Holocaust-Überlebenden mehr gibt?

„Wir arbeiten nach dem Vers ‚Tröstet, tröstet mein Volk, sagt euer Gott.‘ Ich wäre mehr als glücklich, wenn einmal nach dem Ende der Generation des Holocausts es niemanden aus dem Volk Israel mehr gäbe, der zu trösten ist. Jedoch, so einfach sind die Dinge nicht. Wir werden sehen müssen, welche Gruppe wir mehr trösten können. Vielleicht die Holocaust-Überlebenden der zweiten Generation oder die Opfer von Terrorismus und Kriegen in Israel. Wir haben uns noch nicht entschieden. Wir werden diese Entscheidungen zusammen als ganze Familie treffen.“

Der 84-jährige Großvater, Yochanan Bayer, schließt sich an: „Was können wir dem Volk Israel sagen? Was heute vor sich geht, ist äußerst schmerzhaft. Niemand weiß, wie dieser schreckliche Schlamassel ausgehen wird. Aber eins weiß ich: Das Volk Israel ist Gottes Volk und Gottes Augen sind das ganze Jahr hindurch auf das Volk Israel gerichtet.“

F.: Warum also fand das Massaker am 7. Oktober statt?

„Wir bekommen nicht immer Antworten. Zu fragen, was er dadurch wollte, welche Botschaft versuchte er uns zu vermitteln. Ich denke, dass wir einfach auf dem Weg Gottes gehen müssen, so sehe ich die Dinge. Wir müssen beten und uns daran halten, was Gott sagt. Nimm das Buch der Psalmen zur Hand, es gibt dir eine enorme Menge an Kraft.“

Im Übrigen ist die Familie kein großer Freund von Bier und Fußball. Urija war der einzige, der Bier mochte und seine Freunde machten Bier für ihn mit seiner Illustration – „King Beer“ [König der Biere] und Rachel stellte ein ganzes Fach Bier in den Aufenthaltsraum für seine israelischen Freunde.

Ich habe mich immer als Israelin verstanden,“ schließt Urijas Schwester Rachel, die gerade erst aus dem IDF-Reservedienst entlassen wurde. Sie hat auch das vormedizinische Studium an der Universität von Ariel abgeschlossen. „Dies ist unsere Heimat,“ sagte sie, ‚auf der Suche nach sich selbst‘ so wie es die anderen Gleichaltrigen tun. Ihre ältere Schwester, die auf einer Reise nach Lateinamerika war, wurde auch für den Reservedienst einberufen und entlassen.

Gerade als wir im Begriff waren zu gehen, kam ein Freund von Maglan, Neta, der kürzlich den IDF-Offizierskurs besucht hat und Anfang der Woche verwundet wurde, auf Krücken herein. Er hatte im Radio gehört, was mit Urjja geschehen ist und das erste, was er nach der Entlassung aus dem Krankenhaus tun wollte, war die Eltern seines guten Freundes zu treffen und mit ihnen Erinnerungen auszutauschen.

Übersetzung und Links im Text: faehrtensuche

85 Jahre nach dem infamen Pogrom der Nazis sagen Holocaust-Überlebende, dass sie wieder einmal Angst haben.

Originalartikel: Debbie Weiss, 85 Years After Infamous Nazi Pogrom, Holocaust Survivors Say They Once Again Feel ‘Terrified’, 9. November 2023

Zum 85. Jahrestag der Kristallnacht, dem infamen Angriff der Nazis auf die deutsche jüdische Gemeinschaft am 9./10. November 1938, hat der Internationale March of the Living [Marsch der Lebenden], ein Bildungsprogramm zum Holocaust, eindrucksvolle Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden aus der ganzen Welt freigegeben, die zum Ausdruck brachten, dass sie sich nach dem Massaker vom 7. Oktober durch die Hamas und der darauf folgenden weltweiten Zunahme des Antisemitismus zum zweiten Mal in ihrem Leben nicht sicher fühlen.

„Ich hätte nie gedacht, dass in meinem Leben so etwas Schreckliches wie jetzt wieder einmal passieren würde,“ sagte Tirza, die die Kristallnacht überlebt hat, nachdem ihr Vater geschlagen und später von den Nazis umgebracht worden war.

„Ich muss ehrlich sagen, dass bei allen Vorträgen, die ich halte und ich halte viele, in Israel, in Deutschland und wo immer ich kann, ich daran denke, wie schrecklich es vor 85 Jahren war, und jetzt erfahren wir es wieder“, ergänzte sie.

In einer anfänglichen Kopie der Zeugenaussagen, die The Algemeiner erhielt, waren die vollständigen Namen und Fotografien der Überlebenden bereitgestellt. Auf Wunsch ihrer Familien und aus Bedenken wegen ihrer Sicherheit wurde The Algemeiner gebeten, den Nachnamen zu schwärzen und von der Veröffentlichung der Fotos abzusehen.

March of the Living meinte in einer Stellungnahme, dass die Überlebenden „besorgt darüber seien, dass ihre Identität sie oder ihre Familien in unmittelbare Gefahr bringen könnten.“ Manche Berichte wiesen darauf hin, dass seit dem 7. Oktober die Zahl der Angriffe gegen Juden und jüdische Gemeinschaften weltweit um 500% angestiegen seien.

Dr. Shmuel Rosenman, der Vorsitzende des Internationalen March of the Living und Präsidentin Phyllis Greenberg Heideman berichteten von der herzzerreißenden Erfahrung, den Überlebenden zuzuhören: „Wir hätten nie geglaubt, dass wir wieder einmal einen Holocaust-Überlebenden sagen hören, ‚Ich fühle mich nicht sicher‘ oder ‚Ich habe Angst, in die Synagoge zu gehen‘ oder ‚Ich habe Angst, sie werden mir Schaden zufügen‘. Wir hätten nie gedacht, nochmal solche Tage zu erleben.

Kristallnacht, auch bekannt als die „Nacht der zerbrochenen Scheiben“, die am 9./10. November stattfand, als Truppen der Nazis und deutsche Zivilisten jüdische Häuser, Geschäfte und Synagogen zerstörten, wobei mindestens 95 Juden starben und 20.000 jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager geschickt wurden. Über 7000 in jüdischem Besitz befindliche Kaufhäuser wurden geplündert. In den vergangenen Jahren haben Historiker den Begriff „Reichspogromnacht“ anstatt Kristallnacht gebraucht und das damit begründet, dass er die Gewalt besser auf den Punkt bringe.

Viele Synagogen und jüdische Gemeindezentren haben dieses Jahr ihre Pläne für das Gedenken an die Kristallnacht aus Angst vor antisemitischen Angriffen auf Eis gelegt.

In einem feierlichen Rückblick auf vergangene Gräueltaten erzählten Überlebende ihre Not nach den jüngsten Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober und zogen erschreckende Parallelen zu ihren Erfahrungen während des Holocausts.

„Der 7. Oktober brachte so viele Erinnerungen zurück an das, was ich als Kind erlebt habe“, sagte Maud, eine Holocaust-Überlebende, die in den USA lebt. „Ich hatte seitdem schlaflose Nächte und es förderte wieder so viele Erinnerungen zutage. Es steht mir bildlich vor Augen wie das, was ich als Kind erlebt habe. Nun dies. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, weiß nicht, wie ich es verdauen soll, es ist alles so schwer.“

Nate, ein Überlebender, der in Kanada lebt, erinnerte sich daran, wie er auf den Straßen während der Kristallnacht angegriffen wurde und hörte Rufe wie „dreckige Juden, geht nach Palästina.“ Er fuhr fort und sagte, dass er seit dem 7. Oktober darum „kämpfe, sein Gleichgewicht zu erhalten.“

„Wir müssen gemeinsam den Schmerz der Eltern, deren Kind entführt und mit dem Tod bedroht wird, mitfühlen. Die Barbarei der Hamas ist gleich groß und übersteigt fast das, was ich während der Shoa erfahren habe“, sagte er und benutzte das hebräische Wort für Holocaust.

Hamas, die palästinensische Terrorgruppe, die den Gazastreifen kontrolliert, ermordete während ihrer Invasion in Israel am 7. Oktober 1400 Menschen, meist Zivilisten – das tödlichste eintägige Massaker an Juden seit dem Holocaust. Die Terroristen entführten auch über 240 Personen, darunter Kinder und ältere Menschen, und brachten sie als Geiseln zurück nach Gaza. Seit dem Angriff, inmitten des weiter fortdauernden Krieges zwischen Israel und der Hamas, gab es weltweit einen starken Anstieg von Zwischenfällen, die auf Juden abzielten, besonders in den USA und Europa.

Die Holocaust-Überlebende Manya, die in den USA lebt, sagte: „Ich überlege zweimal, ob ich meinen Davidsstern trage. Ich habe Angst, zur Synagoge zu gehen.“

Mit Blick auf die antiisraelischen Stimmung, die an den Universitäten um sich greift, fuhr sie fort: „Wodurch sind diese College-Studenten so erregt worden? Wie haben Juden ihnen geschadet? Woher kommt das?“

„Wie sind mal wieder die Auserwählten [und] ich fürchte mich.“

Ben, aus den USA, der sechs Konzentrations- und Vernichtungslager überlebt hat, berichtet, wie entsetzlich es war zu erleben, wie „jüdische Menschen getötet wurden für nichts.“

„Hamas Terroristen sind losgezogen und haben Kindern den Kopf abgetrennt – das ist unfassbar,“ ergänzte er.

Eva aus Kanada, sagte, sie wäre „entsetzt“ und warnte davor, dass diese Szenen, die sich überall auf der Welt entfalten, „leicht zu einem 3. Weltkrieg führen könnten.“

Nichtsdestotrotz beendete Eva ihre Aussage mit einer Botschaft der Hoffnung.

„Es ist schwer, die Hoffnung zu finden“, sagte sie, „doch wie Elie Wiesel erklärt, kann der Mensch nicht ohne [sie] leben. Wir müssen die Hoffnung finden, dass Israel sich selbst verteidigen kann, zurückfinden kann zu einer Demokratie und ein Anker sein kann für Juden überall auf der Welt, der so dringend gebraucht wird.“

Debbie Weiss ist freiberuflliche Journalistin mit Sitz in Israel.

Übersetzung: faehrtensuche

21. April 2020: Holocaustgedenken im Schatten von Corona

Die diesjährigen öffentlichen Feierlichkeiten wurden abgesagt, während die Überlebenden gegen die Einsamkeit und die Angst vor Ansteckung kämpfen. Lokale gemeinnützige Organisationen wenden sich an die Überlebenden und bieten Unterstützung an.

Von Lauren Marcus, World Israel News

Der am Montagabend [heute Abend] beginnende Holocaust-Gedenktag wird in Israel normalerweise mit bedrückenden Zeremonien und emotionalen öffentlichen Zusammenkünften begangen, bei denen häufig ein Holocaust-Überlebender vor einem Publikum über seine Erlebnisse spricht. Doch dieses Jahr werden die Veranstaltungen aufgrund des Coronavirus virtuell verlaufen, während die Überlebenden mit Einsamkeit, Isolation und der Bedrohung durch Krankheit kämpfen.

Heute leben 189.500 Holocaust-Überlebende in Israel. Siebenundsiebzig Prozent von ihnen sind über 80 Jahre alt, mit einem Durchschnittsalter von 83,9 Jahren. Damit gehören sie zur höchsten Risikogruppe für Menschen, die sich mit dem Coronavirus infizieren. Achthundert Holocaust-Überlebende in Israel sind über 100 Jahre alt.

Anstelle öffentlicher Zeremonien sollen virtuelle Veranstaltungen stattfinden, wie z.B. das „Memory in the Living Room Project“ [Gedenken im Wohnzimmer], bei dem Menschen an einem Online-Meeting teilnehmen können und hören, wie ein Überlebender seine Geschichte erzählt. Zoom-Meetings werden von den Stadtverwaltungen in Jerusalem, Haifa und Ashdod organisiert, wo Diskussionen über den Holocaust und seine Auswirkungen stattfinden.

Allerdings fehlen vielen Holocaust-Überlebenden, die an öffentlichen Zeremonien teilgenommen hätten, Heimcomputer und die technischen Kenntnisse, die für die Teilnahme an virtuellen Veranstaltungen erforderlich sind.

Im Rahmen des diesjährigen modifizierten Holocaust-Gedenktages starten die Städte Netanya und Hadera eine Initiative mit der Aviv Association for Holocaust Survivors. Die neue Veranstaltung „Gedenken an die Opfer: Umarmung der Überlebenden von den Balkonen“ findet vormittags um 10:00 Uhr statt.

Das Programm fordert die Israelis auf, auf ihre Balkone zu treten und nach der Sirene und der Schweigeminute gemeinsam Israels Nationalhymne „HaTikvah“ zu singen, als Zeichen der Solidarität mit den Holocaust-Überlebenden.

Der Wohlfahrtsfonds für Holocaust-Opfer verstärkt seine Bemühungen in dieser schwierigen Zeit. Die Stiftung, die Zehntausende von Holocaust-Überlebenden betreut, hat ihr Freiwilligensystem erweitert. Sie hilft Überlebenden in der Einsamkeit, indem sie emotionale und psychische Gesundheit fördert und Lebensmittel und Medikamente nach Hause liefert und Soforthilfe leistet.

Limor Livnat, Vorsitzende der Vereinigung von Freiwilligen des Wohlfahrtsfonds für Holocaustopfer, äußerte sich Israel Hayom gegenüber: „Wir alle haben eine moralische Verpflichtung, eine Pflicht, für Holocaust-Überlebende da zu sein. Sie haben den Horror überlebt und sind immer noch hier. Wir müssen sicherstellen, dass sie ein Leben in Würde führen.“

Die Organisation Holocaust Survivors‘ Right Authority bietet einen unterstützenden Rahmen für etwa 7000 Überlebende. Auf psychische und emotionale Gesundheit fokkussiert, bietet die Organisation Beratung durch professionelle Psychologen per Telefon und Videoanrufe an. Bei Fragen zu den Rechten von Holocaust-Überlebenden und Bitten um Hilfe kann das Informationszentrum der Organisation unter der Nummer *5105 kontaktiert werden.

Der erste Coronavirus-Todesfall in Israel war der 88-jährige Holocaust-Überlebende Aryeh Even. Er war Bewohner des Novim Towers, einer Einrichtung für betreutes Wohnen in Jerusalem, wo das Corona-Virus mindestens vier älteren Menschen das Leben kostete. Viele Holocaust-Überlebende in Israel leben in betreuten Wohnungseinrichtungen, die sich als Hotspot für tödliche Ausbrüche sowohl im Jüdischen Staat als auch weltweit erwiesen haben.

Originalartikel: Lauren Marcus, Observing Holocaust Remembrance Day in the shadow of coronavirus

Übersetzung: faehrtensuche

Das Schofar von Auschwitz

von Dr. Yvette Alt Miller, 24. September 2019, Aish

Rosh HaShana 1944: Eine Gruppe von zerlumpten jüdischen Gefangenen versammelte sich zu einem weiteren anstrengenden Arbeitseinsatz. Überall wurden Juden ausgehungert, gefoltert und ermordet. Die geringste Bekundung jüdischen Glaubens war strengstens verboten, war Grund für die Exekution durch Nazi-Wachen.

Doch an diesem Rosh HaShana gelang es einer Gruppe mutiger Juden, in einem Minjan zu beten. Wie durch ein Wunder gelang es ihnen sogar, ein Schofar zu blasen und der Entdeckung zu entgehen. Prof. Judy Tydor Schwartz, die Leiterin für Holocaustforschung an der Bar Ilan Universität in Israel, ist die Tochter des Mannes, der diese erstaunliche Leistung ermöglichte. In einem Exklusivinterview mit Aish.com beschrieb sie ihren bemerkenswerten Vater, Chaskel Tydor, und sein Schofar.

Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war Chaskel 36 Jahre alt und lebte mit seiner Frau Bertha und seinen kleinen Kindern in Frankfurt. Sie schafften es, einen Sohn und eine Tochter über den Kindertransport, einem Programm, das es 1939 jüdischen Kindern ermöglichte, dem Nazi-Deutschland zu entfliehen, in die relative Sicherheit innerhalb Belgiens zu schicken. Später in diesem Jahr wurde Chaskel verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. 1942 wurde er in ein Zwangsarbeitslager bei Auschwitz geschickt. Dort erfuhr er, dass Bertha und andere Verwandte in Auschwitz ermordet worden waren.

Obwohl er kurzzeitig der Verzweiflung erlag, fand Chaskel bald Sinn darin, anderen zu helfen. „Er hatte alles getan, was er konnte, um Leben zu retten und so vielen er helfen konnte, ihren Geist und ihre religiösen Überzeugungen zu bewahren“, sagte Prof. Tydor Schwartz. „Er schickte Freunden Mishloach Manot (Geschenke des Essens) an Purim, was bedeutete, dass er ohne Nahrung blieb, wenn er das tat. Er zündete heimlich Chanukka-Kerzen an. Er lehrte Pirkej Avot (Ethik der Väter) heimlich in Buchenwald und später in Auschwitz.

Chaskel wurde zum Blocksekretär ernannt und war zuständig für die Organisation von Arbeitseinsätzen seiner jüdischen Mitmenschen. Er nutzte diese Position, um anderen zu helfen und schickte Gruppen von Gefangenen an weit entfernte Orte, wo sie zusammen als Gruppe beten konnten. An Rosh HaShana 1944 setzte er eine Gruppe von über zehn jüdischen Gefangenen ein, um an einem abgelegenen Ort zu arbeiten. Es war selbstverständlich, dass sie zumindest einen Teil der Rosh HaShana-Gebete sprechen würden.

Als die Männer zurückkamen, erzählten sie Chaskel ein erstaunliches Geheimnis: Einer von ihnen hatte es geschafft, ein Schofar in ihren Arbeitseinsatz zu schmuggeln, und sie hatten seinen Tönen gelauscht. Der Gedanke, dass Juden es geschafft hatten, die Mitzwa des Blasens eines Schofars zu erfüllen, der uns mit seinem durchdringenden Klang aus dem spirituellen Schlaf wecken soll, schien fast die Vorstellungskraft zu übersteigen. Doch die Männer hatten es getan und hörten das Rosh HaShana-Schofar im Schatten der Auschwitz-Krematorien.

Prof. Tydor Schwartz vermutet, dass das Schofar ab Mitte 1944 in das Lager geschmuggelt worden sein könnte, als 440.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert wurden. Ihre Habseligkeiten wurden in einem riesigen Gebiet gelagert, das unter dem Spitznamen „Canada“ bekannt ist, und einigen jüdischen Gefangenen gelang es, Gegenstände von dort nach Auschwitz zu schmuggeln.

Bei ihren Forschungen ist Prof. Tydor Schwartz auf viele andere Geschichten von Juden gestoßen, die sich den Nazi-Wachen widersetzten und jüdische Mitzwot und Gebete während des Holocaust verrichteten. „Die Mutter einer meiner liebsten Freundinnen ist eine religiöse Auschwitz-Überlebende, Mitte 90. Sie und ihre Schwester arbeiteten in der Lagerbaracke ‚Canada‘ und versuchten, Dinge, einschließlich religiöser Artefakte, ins Lager zu schmuggeln. Mein Vater und seine Freunde erzählten mir von dem Schofar und einem Paar Tefillin in Auschwitz.“ Prof. Tydor Schwartz hat auch Berichte aus erster Hand über Juden gesammelt, die in Auschwitz heimlich eine provisorische Sukkah aus einem leeren Fass gebaut haben.

„Natürlich, wären sie erwischt worden, wären sie getötet worden“, sagte sie. „Selbst für einen Moment zu stehen und zu beten, war gefährlich.“

Anfang 1945, als die alliierten Truppen vorrückten, begannen die Nazis, das Todeslager Auschwitz und die Außenarbeitslager in die Luft zu jagen. Chaskel Tydor und etwa 60.000 andere jüdische Gefangene wurden auf einem Todesmarsch in ein anderes, dreißig Meilen entferntes Lager geschickt. In der Nacht vor ihrer Abreise kam ein Mithäftling zu ihm und reichte ihm ein in schmutzige Lumpen gewickeltes Bündel: das kostbare Schofar, das sie auf Rosch Haschana haben ertönen lassen.

Der Mann sagte Chaskel, er glaube nicht, den Marsch zu überleben, also wünschte er, dass Chaskel es übernähme. Wenn Chaskel überlebte, wies ihn der Mann an, sollte er der Welt mitteilen, dass Juden in Auschwitz das Schofar geblasen hätten.

Chaskel überlebte den Krieg und zog in das Land Israel, damals unter britischer Herrschaft. Als sein Schiff sich an Rosh HaShana 1945 der Küste von Haifa näherte, blies Chaskel von neuem das Auschwitz-Schofar und feierte das jüdische Neujahrsfest in Sichtweite der israelischen Stadt Haifa.

In späteren Jahren arbeitete Chaskel in Amerika, wo er seine Frau Shirley Kraus traf und wo seine Tochter Prof. Tydor Schwartz geboren wurde. Er arbeitete in New York, Montana und South Dakota und zog schließlich nach Israel zurück. Überall, wo er hinging, nahm er sein kostbares Schofar mit.

Mein Vater hat das Schofar zu Hause geblasen für diejenigen, die nicht zur Synagoge gehen konnten, um es zu hören – Frauen mit kleinen Kindern, Kranke, ältere Menschen. Er hat es für meine Großmutter geblasen, als sie nicht in der Lage war, zu Fuß zur Synagoge zu gehen, für mich, als ich ein Kind zur Welt brachte und für alle Frauen in unserem Haus mit kleinen Kindern, die nicht zur Synagoge gehen konnten“, erzählte Dr. Tydor Schwartz.

„Mein Vater war äußerst mutig und hatte einen starken Glauben an Gott. Er hat immer versucht, so vielen wie möglich zu helfen, auch bei hohen persönlichen Kosten. Er war ein großartiger Mensch und so viel mehr. Er war vielleicht eins achtzig, aber er war ein gigantischer Mann.“

Am 23. September 2019 kam das kostbare Auschwitz-Schofar ihres Vaters nach Amerika, wo es im Museum of Jewish Heritage in New York ausgestellt wird. Aber zuerst wird es in einigen New Yorker Synagogen an Rosh Hashanah geblasen, damit die Juden noch einmal die Geräusche hören können, die dazu verholfen haben, jüdischen Gefangenen in Auschwitz einer Generation zuvor Kraft zu geben.

Sie hofft, dass sein Vermächtnis und die Geschichte des Schofars den Menschen Hoffnung gibt und die Botschaft vermittelt, dass „wir alle vor unserer eigenen Tür kehren müssen, um die innere Kraft zu finden, Gutes in dieser Welt zu tun, unter allen Umständen und Bedingungen.“

Originalartikel: Dr. Yvette Alt Miller, The Shofar of Auschwitz, Aish

Übersetzung und Links: faehrtensuche

„Ich werde nicht sterben, sondern leben.“

„Passend“ zum 79. Jahrestag der Reichskristallnacht am gestrigen 9. November stieß ich auf einen Text von Rabbi Sacks, der mich elektrisierte, sprach er doch Fragen an, die mich auch schon häufig beschäftigt hatten. Wie konnte ein Volk so lange überleben? Wie konnte ein Volk nach den Erfahrungen der Shoa „auferstehen“ und sich zu so blühendem Leben entwickeln? Warum war/ist es so erfolgreich? Persönliche Begegnungen in Israel haben für mich immer eine besondere Strahlkraft und Stärke, die mich beeindruck(t)en und faszinier(t)en! Besonders beeindruckend und unvergesslich: Die Begegnung mit Holocaust-Überlebenden! In Israel hatte ich mehrere Male die Gelegenheit, einige von ihnen kennenzulernen. Jedes Mal bin ich durch diese Begegnungen bereichert worden und oft habe mich gefragt: Wie kann es sein, dass sie mir (zudem noch als Deutsche) so freundlich, offen und unvoreingenommen begegnen, dass sie so lebensbejahend und herzlich sind, dass sie so positive Energie ausstrahlen und all das nach unvorstellbar schrecklichen Erfahrungen während der Shoa? (Für den interessierten Leser: Von einer dieser Begegnungen habe ich hier berichtet.)

Rabbi Sacks hat den nachfolgend von mir übersetzten Text nicht verfasst, um an den 79. Jahrestag der Reichskristallnacht zu erinnern, aber er passt meiner Ansicht nach gut (auch) dazu. Grundlage der Ausführungen von Rabbi Sacks ist die Parasha dieser Woche in Genesis 23, 1-16. Zur Erklärung: Am Shabbat, dem jüdischen Feiertag, wird in der Synagoge die Torah als fortlaufender Text gelesen. Entsprechend der Anzahl der Wochen nach jüdischem Kalender wird die Torah in Abschnitte eingeteilt, so dass am Ende des Jahres die ganze Torah gelesen worden ist.

Rabbi Sacks, The World’s Oldest Man (Chaje Sarah 5778), 6. November 2017

Der älteste Mann der Welt

Am 11. August 2017 verstarb der älteste Mann der Welt, nur einen Monat vor seinem 114. Geburtstag. Das machte ihn zu einem der zehn am längsten lebenden Männer seit Beginn der modernen Registrierungen. Wenn Sie nichts anderes als das von ihm wüssten, würden Sie zu Recht denken, dass er ein friedvolles Leben geführt hat, das von Angst, Trauer und Gefahr verschont blieb.

Das Gegenteil ist der Fall. Der betreffende Mann war Yisrael Kristal, ein Überlebender des Holocaust. 1903 in Polen geboren, überlebte er vier Jahre im Ghetto Lodz und wurde dann nach Auschwitz transportiert. Im Ghetto starben seine beiden Kinder. In Auschwitz wurde seine Frau umgebracht. Als Auschwitz befreit wurde, war er ein wandelndes Skelett mit einem Gewicht von nur 37 Kilo. Er war das einzige Mitglied seiner Familie, das überlebte.

Er war als religiöser Jude aufgewachsen und blieb es sein ganzes Leben lang. Als der Krieg vorbei und seine ganze Welt zerstört war, heiratete er erneut, diesmal eine andere Holocaustüberlebende. Sie hatten Kinder. Sie machten Aliyah in Haifa. Dort begann er wieder im Süßwarengeschäft, wie schon vor dem Krieg in Polen. Er stellte Süßigkeiten und Schokolade her. Er wurde ein Innovator. Wenn Sie jemals eine mit Schokolade bedeckte israelische Orangenschale oder Likörpralinen geformt wie kleine Flaschen und mit Silberfolie bedeckt gegessen haben, genießen Sie eines der Produkte, die von ihm stammen. Diejenigen, die ihn kannten, sagten, er sei ein Mann ohne Bitterkeit in seiner Seele gewesen. Er wollte, dass die Leute Süße schmeckten.

Im Jahr 2016, im Alter von 113 Jahren, feierte er endlich seine Bar Mizwa. Hundert Jahre früher hatte sich das als unmöglich erwiesen. Zu diesem Zeitpunkt war seine Mutter tot und sein Vater kämpfte im Ersten Weltkrieg. Mit einem fast poetischen Gefühl von Angemessenheit starb Yisrael am Erev Shabbat Ekev, der Parasha, der den zweiten Absatz des Sh’ma [Yisrael] mit seinen Befehlen enthält, Tefillin zu tragen und deinen Kindern die Torah zu lehren, „damit du und deine Kinder lange in dem Land lebest, das der Herr deinen Ahnen geschworen hat.“

Yisrael Kristal tat beides gewissenhaft. Auf seiner Bar Mizwa scherzte er, dass er der älteste Tefillin-Träger der Welt sei. Er versammelte seine Kinder, Enkel und Urenkel unter seinem Tallit und sagte: „Hier ist ein Mensch, und schau, wie viele Menschen er zum Leben erweckt hat. Da wir alle hier unter meinem Tallit stehen, denke ich: Sechs Millionen Menschen. Stell dir die Welt vor, die sie hätten bauen können.“ Das war ein außergewöhnlicher Mann.

Sein Leben wirft Licht auf einen der verlockendsten Verse in der Torah. Den Tod von Abraham beschreibend, sagt unsere Parasha, „Er tat seinen letzten Atemzug und starb in gutem Alter, alt und lebenssatt.“ (Gen. 25, 8). Sein Tod ist der ruhigste in der Torah. Doch schau dir sein Leben an, belastet wie es war, mit einer Prüfung nach der anderen.

Um dem Ruf G’ttes zu folgen, musste er sich von seinem Land, seinem Geburtsort und dem Haus seines Vaters verabschieden und zu einem unbekannten Ziel reisen. Zweimal zwang ihn die Hungersnot ins Exil, wo sein Leben in Gefahr war. Er, dem zahllose Kinder zugesagt waren – so viele wie der Staub der Erde und die Sterne des Himmels – blieb bis ins hohe Alter kinderlos. Dann sagte ihm Gott, er solle seinen Sohn, den er mit Sarahs Dienerin Hagar hatte, wegschicken. Und als ob dieser Prozess nicht herzzerreißend genug gewesen wäre, sagte G’tt ihm dann, seinen einzigen mit Sarah gezeugten Sohn zu opfern, Isaak, der, von dem Gott gesagt hatte, dass er sein geistiges Erbe und Träger des Bundes in der Zukunft wäre.

Sieben Mal [wurde ihm] ein Land zugesprochen. Als Sarah starb, besaß er keinen einzigen Quadratzentimeter an Land, um sie zu begraben, und musste die Hethiter bitten, ihm ein Feld und eine Begräbnishöhle durch Kauf zu überlassen. Das war ein Leben von enttäuschten Hoffnungen und verzögerten (Lebens-)Erfüllungen. Was war das für ein Mann, von dem die Torah sagen kann, dass er „im guten Alter, alt und lebenssatt“ starb?

Ich habe die Antwort auf diese Frage durch eine Reihe von lebensverändernden Begegnungen mit Holocaustüberlebenden erfahren. Sie gehörten zu den stärksten, lebensbejahendsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Ich habe mich jahrelang gefragt, wie sie überhaupt überleben konnten, nachdem sie gesehen hatten, was sie sahen und erfahren hatten, was sie erfuhren. Sie hatten die tiefste Dunkelheit durchlebt, die je auf eine Zivilisation herabgekommen ist.

Irgendwann wurde mir klar, was sie getan hatten. Fast ohne Ausnahme haben sie sich nach Kriegsende zielstrebig auf die Zukunft konzentriert. Fremde in einem fremden Land, sie bauten Häuser und machten Karriere, heirateten und bekamen Kinder und brachten neues Leben in die Welt.

Oftmals sprachen sie nicht über ihre Erfahrungen während der Shoah, nicht einmal mit ihren Ehepartnern, ihren Kindern und ihren engsten Freunden. Dieses Schweigen dauerte in vielen Fällen bis zu fünfzig Jahre. Erst dann, als die von ihnen aufgebaute Zukunft sicher war, erlaubten sie sich, zurückzublicken und zu bezeugen, was sie erlitten und gesehen hatten. Einige von ihnen schrieben Bücher. Viele von ihnen gingen in Schulen und erzählten ihre Geschichte, so dass der Holocaust nicht geleugnet werden konnte. Zuerst bauten sie eine Zukunft. Erst dann erlaubten sie sich, sich an die Vergangenheit zu erinnern.

Das ist es, was Abraham in der Parasha dieser Woche getan hat. Er hatte drei Verheißungen von G’tt erhalten: Kinder, ein Land, und die Versicherung, dass er der Vater sein würde, nicht einer Nation, sondern vieler Nationen (Gen. 17, 4-5). Im Alter von 137 Jahren hatte er einen unverheirateten Sohn, kein Land und hatte keine Nationen ins Leben gerufen. Er äußerte kein einziges Wort der Beschwerde. Offensichtlich erkannte er, dass G’tt wollte, er sollte handeln, nicht darauf warten, dass G’tt die Arbeit für ihn tat.

Also, als Sarah starb, kaufte er das erste Grundstück in dem [Land], das das Heilige Land werden würde, das Feld und die Höhle von Machpelah. Dann wies er seinen Diener an, eine Frau für Isaak, seinen Sohn, zu finden, damit er die ersten jüdischen Enkelkinder sehen könnte. Schließlich heiratete er im hohen Alter wieder und hatte sechs Söhne, die später Stammväter vieler Nationen werden sollten. Er hockte nicht da, außer für kurze Zeit, um seine Vergangenheit zu betrauern. Stattdessen unternahm er die ersten Schritte, um die Zukunft aufzubauen.

Das ist das, was Yisrael Kristal auf seine Art getan hat – und das ist die Art, wie er als Überlebender von Auschwitz lebte und der älteste Mann der Welt wurde. Auch er starb „im guten Alter, alt und lebenssatt“.

Das ist das, was das jüdische Volk gemeinsam getan hat, als David Ben-Gurion den jüdischen Staat in der alten Heimat unseres Volkes, im Land Israel ausrief – nur drei Jahre, nachdem er Auge in Auge dem Todesengel in Auschwitz gegenüber gestanden hatte. Hätte das weltweite jüdische Volk passiv da gesessen und von damals bis heute um die ermordeten Generationen des europäischen Judentums geweint, wäre das eine verständliche Reaktion gewesen. Aber das tat es nicht. Es war so, als ob das jüdische Volk gemeinsam in den Worten König Davids gesagt hätte: „Ich werde nicht sterben, sondern leben“ (Ps 118,17), um dadurch dem G’tt des Lebens Zeugnis zu geben. Aus diesem Grund ist die älteste Nation der Welt noch jung, ein weltweit führendes Unternehmen in lebensrettender Medizin, Katastrophenhilfe und lebensverbessernder Technologie.

Das ist eine transformative Idee. Um Tragödie und Trauma zu überleben, zuerst die Zukunft bauen [und] sich erst dann an die Vergangenheit erinnern.


Übersetzung, Hervorhebung im Text und Links: faehrtensuche