Rabbi Sacks‘ 7 Prinzipien für den Erhalt des jüdischen Volkes

Original (Video) : Rabbi Sacks, Seven Principles for Maintaining Jewish Peoplehood

Juden sind ein argumentierfreudiges Volk. Wir sagen „Der Herr ist mein Hirte“, aber kein Jude war jemals ein Schaf. Ich erinnere mich an einen Dialog mit dem verstorbenen großartigen israelischen Schriftsteller Amos Oz, der mit den Worten begann: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich Rabbi Sacks in allem zustimmen werde, aber in den meisten Dingen stimme ich mir selbst nicht zu.“

Unsere Zivilisation ist die einzige, die ich kenne, deren kanonische Texte Anthologien von Argumenten sind. Die Propheten diskutierten mit Gott; die Rabbis diskutierten untereinander. Wir sind ein Volk mit starken Ansichten – es ist ein Teil dessen, was uns ausmacht. Unsere Fähigkeit zu argumentieren, unsere völlige Diversität – kulturell, religiös und in jeder anderen Hinsicht – ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Wenn sie jedoch der Grund dafür ist, dass wir uns entzweien, wird sie schrecklich gefährlich, denn während kein Reich der Welt jemals in der Lage war, uns zu vernichten, haben wir es gelegentlich geschafft, uns selbst eine Schlappe beizubringen.

Das passierte dreimal. Das erste Mal geschah es in den Tagen von Joseph und seinen Brüdern, wenn die Tora sagt: „Sie konnten nicht mehr friedlich miteinander reden.“ Die Brüder verkauften Joseph als Sklaven und doch landeten sie schließlich alle, auch ihre Enkel, in der Sklaverei. Das zweite Mal folgt auf die Fertigstellung des ersten Tempels. Salomo stirbt, sein Sohn übernimmt die Herrschaft, das Königreich teilt sich in zwei Teile. Das war der Anfang vom Ende von beiden – dem nördlichen und dem südlichen Königreich. Das dritte Mal geschah als die Römer Jerusalem belagerten und die jüdischen Männer und Frauen, die im Inneren belagert wurden, mehr darauf konzentriert waren, sich gegenseitig zu bekämpfen als den Feind draußen. Diese drei Spaltungen innerhalb des jüdischen Volkes führten zu den drei großen Exilzeiten des jüdischen Volkes.

Wie denn dann können wir mit dieser Diversität innerhalb eines einzigen Volkes, das durch Schicksal und Bestimmung miteinander verbunden ist, zurechtkommen?

Ich denke, es gibt sieben Prinzipien, die dabei helfen.

PRINZIP 1: Hören Sie nicht auf, miteinander zu reden.

Denken Sie daran, was die Tora über Josef und seine Brüder sagt: „Lo yachlu dabro leshalom“. „Sie konnten nicht in Ruhe mit ihm reden.“ Mit anderen Worten, Reb Yonason Eybeschutz sagt, wenn sie weiter miteinander geredet hätten, hätten sie schließlich Frieden geschlossen. Also, reden Sie weiter miteinander.

PRINZIP 2: Hören Sie einander zu.

Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht über das jüdische Volk. Die gute Nachricht ist die, dass wir zu den besten Rednern der Welt gehören. Die schlechte Nachricht ist, dass wir zu den schlechtesten Zuhörern der Welt gehören. Das „Shema Yisrael“ fordert uns auf, einander auf eine Weise zuzuhören, dass wir wirklich hören, was unser Gegenüber sagt. Wenn wir das tun, entdecken wir, dass es nicht nur ein wirksamer Weg ist, Konflikte zu vermeiden, sondern auch ein zutiefst therapeutischer.

PRINZIP 3: Bemühen Sie sich, diejenigen zu verstehen, mit denen Sie nicht übereinstimmen

Erinnern Sie sich daran, warum das Gesetz Hillel folgt und nicht Shammai. Gemäß dem Talmud war Hillel demütig und bescheiden; er lehrte die Ansichten seiner Gegner noch vor seinen eigenen. Er bemühte sich, den Standpunkt, mit dem er nicht übereinstimmte, zu verstehen.

PRINZIP 4: Trachten Sie nie danach, den Sieg zu erringen

Versuchen Sie niemals, Ihren Opponenten eine Niederlage zuzufügen. Wenn Sie versuchen, Ihrem Gegenüber eine Niederlage zu bereiten, wird Ihr Gegenüber – das ist menschliche Psychologie – versuchen, sich zu revanchieren, indem er Ihnen eine Niederlage zufügt. Das Endergebnis wird sein, dass – selbst wenn Sie heute gewinnen – Sie morgen verlieren werden, und am Ende wird jeder verlieren. Denken Sie nicht in Kategorien wie Sieg oder Niederlage. Denken Sie daran, was das Beste für das jüdische Volk ist.

PRINZIP 5: Wenn Sie Respekt erlangen wollen, erweisen Sie Respekt

Denken Sie an das Prinzip in den Sprüchen: „Wie sich das Angesicht im Wasser spiegelt, so spiegelt sich das Herz des Menschen im Menschen.“ Wie Sie sich anderen gegenüber verhalten, so werden sich die anderen Ihnen gegenüber verhalten. Wenn Sie anderen Juden gegenüber Geringschätzung zeigen, werden sie Ihnen gegenüber auch geringschätzig sein. Wenn Sie anderen Juden Respekt entgegenbringen, werden sie Sie respektieren.

PRINZIP 6: Sie können anderer Meinung sein und sich trotzdem kümmern

Juden werden nie mit allem übereinstimmen, aber wir bleiben eine große Familie. Wenn Sie mit einem Freund nicht einer Meinung sind, kann es sein, dass er morgen nicht mehr Ihr Freund ist. Aber wenn Sie nicht mit Ihrer Familie übereinstimmen, wird sie morgen noch Ihre Familie sein. Letztendlich ist es die Familie, die uns zusammenhält, und das kommt am besten in dem Grundsatz „Kol Yisrael arevim zeh bazeh“ zum Ausdruck – „Alle Juden sind füreinander verantwortlich.“

Denken sie daran, dass das die ultimative Basis des jüdischen Volkes ist. Wie es Shimon bar Yochai ausdrückte: „Wenn ein Jude verletzt ist, fühlen alle Juden den Schmerz.“ Deswegen müssen wir uns anstrengen, uns an die sechste Regel zu erinnern. Letztendlich brauche ich Sie nicht, um mit mir einer Meinung zu sein, ich möchte nur, dass Sie sich um mich kümmern.

PRINZIP 7: Denken Sie daran, dass Gott uns als Volk erwählt hat

Denken Sie daran, dass Gott uns als Volk erwählt hat. Er hat nicht nur die Gerechten zu Seinem Volk erwählt oder nur die Heiligen oder nur die sehr sakralen Menschen, er hat uns alle erschaffen. Das bedeutet also, dass wir als ein Volk vor Gott stehen und als sein Volk stehen wir vor der Welt. Die Welt differenziert nicht, Antisemiten differenzieren nicht. Wir sind vereint durch ein Bündnis der gemeinsamen Erinnerung, der gemeinsamen Identität, des gemeinsamen Schicksals, auch wenn wir unterschiedliche Sichtweisen auf unseren Glauben haben.

Die Weisen haben etwas sehr Beeindruckendes gesagt. Sie sagten: „Der Friede ist wichtig, denn selbst wenn Israel Götzen anbetet und Frieden unter ihnen ist, wird Gott es nie zulassen, dass ihnen Schaden zugefügt wird.“ Das ist eine starke Vorstellung, über die man nachdenken sollte. Also beim nächsten Mal, wenn Sie versucht sind, sich von einer Gruppe von Juden, von der Sie meinen, sie hätte Sie beleidigt, zu entfernen, unternehmen Sie diesen besonderen Kraftaufwand, diese Geste des Zusammenbleibens, des Vergebens, des Zuhörens und der Einigkeit, denn wenn Gott jeden von uns liebt, können wir es dann rechtfertigen, darin zu versagen, auch genau das zu tun.

Übersetzung des Transkripts: faehrtensuche

Sukkot (Laubhüttenfest): Leitfaden für Ratlose

von Yoram Ettinger

1. Die besonderen Beziehungen zwischen den USA und Israel werden durch den Kolumbus-Tag (14. Oktober 2019) hervorgehoben, der immer etwa um die Zeit von Sukkot (2019: 13.-20. Oktober) gefeiert wird. Nach „Columbus Then and Now“ (Miles Davidson, 1997, S. 268) landete Kolumbus am Freitagnachmittag, den 12. Oktober 1492, dem 21. Tag des jüdischen Monats Tishrei, im jüdischen Jahr 5235, am 7. Tag von Sukkot, Hosha’na ‚Rabbah – einem Tag besonderer universeller Befreiung und Wunder – in Amerika. Hosha ’(הושע) ist „Befreiung“ auf Hebräisch; Na ‚(נא) ist das hebräische Wort für „Bitte“ und Rabbah (רבה) ist „Das Erhabene“. Der Zahlenwert von Na‘ im Hebräischen ist 51 (נ – 50, א – 1) und die Feier von Hoshaa ’na‘ Rabbah findet am 51. Tag nach Moses Aufstieg zum Berg Sinai statt.

2. Das dritte jüdische Wallfahrtsfest (nach Passah und Shavuot – Pfingsten) wird seit 3000 Jahren gefeiert und erinnert an den Exodus, an 40 Jahre Wanderung in der Wüste Sinai, an den Bau der heiligen Stiftshütte und die Siege auf dem Weg in das Land Israel. Es bekräftigt den Glauben an Gott, den realitätsbezogenen Optimismus, die Dankbarkeit für das Einsammeln [der Ernte] und die Ernte [selbst]. Sukkot erinnert die Menschen an menschliche Grenzen und betont (in seiner bescheidenen Struktur) die Bedeutung der Demut. Demut ist eine zentrale Botschaft von Sukkot, wie der siebentägige Wechsel vom festen Wohnsitz in die temporäre, bescheidene, hölzerne Sukkah (Hütte) zeigt.

3. Sukkot (auf Hebräisch) ist benannt nach der ersten Station während des Auszuges aus Ägypten, der Stadt Sukkot, wie es Exodus 13: 20-22 und Numeri 33: 3-5 dokumentiert. Es erinnert an den Übergang vom nomadischen Leben in der Wüste zum dauerhaften [Leben] im gelobten Land; von der Wirkungslosigkeit zur Erlösung und von der geistigen Gesinnung während der Hohen Feiertage bis zum Alltäglichen des restlichen Jahres.

4. Die hebräische Wurzel von Sukkot steht für die charakteristischen Merkmale der Beziehung zwischen dem jüdischen Volk, der jüdischen Heimat und dem Glauben an Gott. Das hebräische Wort „Sukkah“ bedeutet Ganzheit und Gesamtheit, Schutz der Stiftshütte, Salbung, göttlicher Vorhang/Schutz und Aufmerksamkeit.

5. Die sieben Tage von Sukkot sind den sieben höchsten Gästen (Ushpizin) gewidmet, die positive menschliche Eigenschaften und Führungsmerkmale repräsentieren: Abraham (Güte, Gastfreundschaft, militärische und zivile Führung); Isaak (Glaube, Heldentum, Optimismus); Jakob (Synergie aus geistiger und körperlicher Stärke); Joseph (Großmut, Vergebung, Gerechtigkeit, Zähigkeit, Führung); Mose (Demut, Sieg, Ewigkeit); Aaron (Heiligkeit, friedliebend); und David (Sühne, Mut, Weisheit und Königtum). Sie boten den immensen Herausforderungen durch Glauben getriebenes Suchen nach bahnbrechenden Initiativen die Stirn. Die sieben Tage von Sukkot drücken Gott die Dankbarkeit aus, dass er das Land Israel mit den sieben Arten gesegnet hat (5. Mose 8: 8): Weizen, Gerste, Trauben, Feigen, Granatäpfel, Oliven und Datteln.

6. Sukkot – das dritte jüdische Wallfahrtsfest nach Passah und Shavuot – ist ein allgemeines Fest, das alle Völker einlädt, nach Jerusalem zu pilgern, wie das in der Lesung aus dem Propheten Sacharja 14:16-19 am ersten Tag von Sukkot zum Ausdruck kommt: „Dann werden die Überlebenden aus allen Nationen, die Jerusalem angegriffen haben, jedes Jahr [nach Jerusalem] hinaufziehen, um den Herrn, den Allmächtigen anzubeten und das Laubhüttenfest zu feiern.“ Sukkot drückt die Sehnsucht nach universellem Frieden aus und betont die „Sukkah von Shalom“ (Frieden). Shalom ist auch einer der Namen Gottes. Shalem – gesund und vollständig auf Hebräisch – ist der alte Name Jerusalems. In den USA gibt es 32 Städte mit dem Namen Salem (biblisch Shalem, JerUSAlem).

7. Traditionell ist Sukkot dem Studium des biblischen Buches Prediger gewidmet, das von König Salomo geschrieben wurde. Es betont die Bedeutung von Demut, Moral, Geduld, Lernen aus Fehlern der Vergangenheit, Gedenken und historischer Perspektive, Familie, Freundschaft, langfristigem Denken, richtigem Timing, Realismus und Wissen. Der hebräische Name von Prediger ist Kohelet, was dem biblischen Gebot ähnelt, die Öffentlichkeit und die Gemeinde für die Feier von Sukkot zu versammeln.

8. Der verstorbene Senator Robert Byrd, der am längsten amtierende US-Senator, zitierte oft Bibelverse im Allgemeinen und Prediger im Besonderen. Beispielsweise erklärte er am 7. November 2008 bei seinem Ausscheiden aus dem Vorsitz des Senatsausschusses: „Alles hat seine bestimmte Stunde und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit.“ (Prediger 3:1)

Originalartikel: Yoram Ettinger, Sukkot (Feast of Tabernacles) guide for the perplexed, 2019

Übersetzung: faehrtensuche

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Ein orthodoxer Jude in Jerusalem entwarf eine kleine mobile Sukkah und setzte sie auf batteriebetriebene Räder, um das Fest der Freu[n]de mit so vielen Menschen wie möglich teilen.

SUKKOT SAMEACH! 🙂

Yom Kippur 5780

Heute Abend (8.10.) beginnt Yom Kippur, im jüdischen Kalender der höchste Feiertag des Jahres.

Dieser Feiertag ist die Zeit, sich selbst zu finden, anderen zu vergeben und alles Fehlverhalten oder Gefühle des Ärgers und der Kränkung hinter sich zu lassen. Es ist der Feiertag, an dem wir alle zusammenkommen und G’tt bitten, unser geliebtes Land zu beschützen.
(Sgt. Yanina)

Im nachfolgenden Video singen der Kantor und der Chor der israelischen Verteidigungsstreitkräfte U’netaneh Tokef, ein in der Liturgie enthaltenes Gebet, das an Yom Kippur rezitiert wird (Text s. unterhalb des Videos). Dazwischen werden Szenen aus dem Yom Kippur-Krieg 1973 gezeigt.

(Video gefunden bei United with Israel)

Text:

… „Am Neujahrsfest [Rosh HaShana] denken wir darüber nach, wie das Urteil gefällt wird;
am Versöhnungstag [Yom Kippur] denken wir darüber nach, wie das Urteil besiegelt wird,

für die, die aus dem Leben scheiden und für die, die geboren werden,
für die, die ihre Zeit leben und für die, die vor ihrer Zeit sterben werden;
für die, die durch Feuer oder durch Wasser sterben werden, durch die Gewalt von Menschen oder durch Tiere, durch Hunger oder durch Durst, durch Katastrophen, Seuchen oder Hinrichtung;
für die, die ruhen und für die, die auf Wanderschaft sind; für die, die sicher sein werden und für die, die gequält sein werden;
für die, die verarmen und die, die, zu Wohlstand kommen werden;
für die, die versagen und für die, die erfolgreich sein werden.

Doch durch Umkehr, Gebet und gute Taten
kann die Härte unseres Schicksals verwandelt werden“…

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Gmar chatima tova – Möget ihr (im Buch des Lebens) für ein glückliches Jahr eingeschrieben werden!

Diesem Wunsch der Botschaft des Staates Israel schließe ich mich gerne an! 🙂

Nachtrag:

Durch die Botschaft des Staates Israel wurde ich auf „eine schöne zwischenmenschliche Geschichte“ aufmerksam, von der The Times of Israel berichtet:

Zwei arabische Brüder, Simon & Salim Matari, wurden in Haifa, einer Stadt im Norden Israels, in das Haus von Rosa Meir gerufen, um ein größeres Wasserleck zu beheben. Während der Arbeit begann einer der beiden Brüder, sich mit Rosa über ihr Leben zu unterhalten.

Nachdem die Brüder erfahren hatten, dass die 95-jährige Rosa den Holocaust überlebt hätte, weigerten sie sich, ihre Arbeit in Rechnung zu stellen. Statt dessen stand auf der Rechnung: „Holocaust-Überlebende, mögen Sie Ihre Gesundheit erhalten bis Sie 120 [Jahre alt] sind. Simon und Salim Matari. Kosten für die Dienstleistung: 0 Shekel.“

Kein Wunder, dass Rosa zu Tränen gerührt war.

Simon sagte Rosa, dass sie es „von Herzen getan“ hätten. Sollte sie sonst noch etwas benötigen, würden sie gerne wiederkommen und kostenlos reparieren.

Nachzulesen in The Times of Israel.

5780

Juden in Israel und auf der ganzen Welt feiern ab heute Abend das jüdische Neujahrsfest – Rosh HaShana! Dem jüdischen Kalender entsprechend beginnt nun das Jahr 5780!

Shana tova umetuka!

!שנה טובה ומתוקה

Ein gutes und süßes neues Jahr!

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Noch ein Hinweis für Genießer 😉 :

Wie man sich auf YouTube das neue Jahr versüßen kann

Rosh HaShana: 10 essentielle Erkenntnisse, die das Herz des Judentums betreffen

von Rabbi Jonathan Sacks

Erschienen bei Aish, 21.09.2019

Ein Auszug aus Ceremony and Celebration: Introduction to the Holidays [Zeremonie und Feier: Einführung in die Feiertage] von Rabbi Jonathan Sacks

Was sagt uns Rosh HaShana? Wie kann es unser Leben verändern? Die Genialität des Judentums bestand darin, ewige Wahrheiten zu nehmen und sie in die Zeit, in gelebte Erfahrungen umzusetzen. Rosh HaShanah, der Jahrestag der Erschaffung der Menschheit, lädt uns ein, die menschliche Existenz auf klare Weise zu leben und zu spüren.

Das erste, was es uns sagt, ist, dass das Leben kurz ist. Trotz der gestiegenen Lebenserwartung werden wir in einem Leben nicht alles erreichen können, was wir erreichen möchten. Untaneh Tokef erzählt die Poesie der Sterblichkeit mit eindringlichem Pathos:

Der Mensch ist im Staub gegründet und endet im Staub. Er legt seine Seele nieder, um Brot nach Hause zu bringen. Er ist wie eine zerbrochene Scherbe, wie vertrocknetes Gras, wie eine verblasste Blume, wie ein flüchtiger Schatten, wie eine vorbeiziehende Wolke, wie ein Hauch von Wind, wie wirbelnder Staub, wie ein Traum, der sich heimlich davonmacht.

Dieses Leben ist alles, was wir haben. Wie sollen wir es gut nutzen? Wir wissen, dass wir die Aufgabe weder beenden werden noch frei sind, uns davon zu distanzieren. Das ist die erste Wahrheit.

Das zweite ist, dass das Leben selbst, jeder Tag, jeder Atemzug, den wir machen, Gottes Geschenk ist:

Erinnere uns lebenslang daran, oh König, der sich am Leben erfreut, und schreibe uns ein in das Buch des Lebens – um deinetwillen, oh Gott des Lebens. (Zikhronot)

Das Leben ist nicht etwas, das wir für selbstverständlich halten. Wenn wir das tun, werden wir es nicht feiern können. Gott gibt uns ein Geschenk über alle anderen [Geschenke], sagte Maimonides: das Leben selbst, neben dem alles andere zweitrangig ist. Andere Religionen haben Gott im Himmel oder im Jenseits, in der fernen Vergangenheit oder in der fernen Zukunft gesucht. Hier gibt es Leiden, dort Belohnung; hier Chaos, dort Ordnung; hier Schmerz, dort Balsam; hier Armut, dort Reichtum. Das Judentum hat im Hier und Jetzt des irdischen Lebens unaufhörlich Gott gesucht. Ja, wir glauben an ein Leben nach dem Tod, aber im Leben vor dem Tod finden wir wirklich menschliche Größe.

Drittens, wir sind frei. Das Judentum ist die Religion des freien Menschen, der frei auf den Gott der Freiheit reagiert. Die Sünde hat uns nicht fest im Griff. Wir werden nicht von wirtschaftlichen Kräften oder seelischen Trieben oder genetisch kodierten Impulsen bestimmt, denen wir nicht widerstehen können. Allein die Tatsache, dass wir Teshuva machen können, dass wir morgen anders handeln können als gestern, zeigt uns, dass wir frei sind. Philosophen haben diese Idee als schwierig empfunden. Ebenso Wissenschaftler. Aber das Judentum besteht darauf, und unsere Vorfahren haben es bewiesen, indem sie sich gegen jede historische Gesetzmäßigkeiten gewehrt und sich geweigert haben, eine Niederlage zu akzeptieren.

Viertens ist das Leben sinnvoll. Wir sind nicht bloße Zufälle von Materie, die von einem Universum erzeugt werden, das ohne Grund entstanden ist und eines Tages ohne Grund aufhören wird zu existieren. Wir sind hier, weil ein liebender Gott das Universum und das Leben und uns ins Dasein gebracht hat – ein Gott, der unsere Ängste kennt, unsere Gebete hört, mehr an uns glaubt als wir an uns selbst glauben, der uns vergibt, wenn wir versagen, uns erhebt, wenn wir fallen und uns die Kraft gibt, Verzweiflung zu überwinden.

Der Historiker Paul Johnson schrieb einmal: „Kein Volk hat jemals entschiedener als die Juden darauf bestanden, dass die Geschichte einen Zweck und die Menschheit ein Schicksal hat.“ Er schlussfolgerte: „Die Juden stehen daher mitten im ständigen Versuch, dem menschlichen Leben die Würde eines Zwecks zu geben.“ (Paul Johnson, Eine Geschichte der Juden, Prolog). Auch das ist eine der Wahrheiten von Rosh HaShana.

Fünftens, das Leben ist nicht einfach. Das Judentum sieht die Welt nicht durch rosarote Brillen. Die Leiden unserer Vorfahren „spukt“ in unseren Gebeten. Die Welt, in der wir leben, ist nicht die Welt, wie sie sein sollte. Deshalb hat das Judentum trotz aller Versuchungen nie sagen können, dass das messianische Zeitalter gekommen ist, auch wenn wir es täglich erwarten. Aber wir sind nicht ohne Hoffnung, weil wir nicht allein sind. Als die Juden ins Exil gingen, ging die Schechina, die Göttliche Gegenwart, mit ihnen. Gott ist immer da, „nah bei allen, die Ihn in Wahrheit anrufen“ (Ps 145,18). Er mag sein Gesicht verbergen, aber er ist da. Er mag schweigen, aber er hört uns zu, erhört uns und heilt uns auf eine Weise, die wir zum gegebenen Zeitpunkt vielleicht nicht verstehen, die aber im Nachhinein klar wird.

Sechstens, das Leben mag hart sein, aber es kann immer noch süß sein, so wie die Challa und der Apfel an Rosh HaShana sind, wenn wir sie in Honig tauchen. Juden haben nie Reichtum gebraucht, um reich zu sein, oder Macht, um stark zu sein. Jude zu sein bedeutet, für einfache Dinge zu leben: die Liebe zwischen Mann und Frau, die heilige Bindung zwischen Eltern und Kindern, das Geschenk der Gemeinschaft, in der wir anderen helfen und andere uns helfen und wo wir lernen, dass die Freude verdoppelt und der Kummer halbiert wird, indem sie geteilt werden. Ein Jude zu sein bedeutet zu geben, ob in Form von Tzedaka oder Gemilut ĥasadim (Taten liebevoller Güte). Es geht darum, zu lernen und nie aufzuhören zu suchen, zu beten und nie aufzuhören zu danken, Teshuva zu tun und nie aufzuhören zu wachsen. Darin liegt das Geheimnis der Freude.

Im Laufe der Geschichte gab es hedonistische Kulturen, die das Vergnügen verehrten, und asketische Kulturen, die es leugneten, aber das Judentum hat einen ganz anderen Ansatz: das Vergnügen zu heiligen, indem es Teil der Anbetung Gottes wird. Das Leben ist süß, wenn es vom Göttlichen berührt wird.

Siebtens, unser Leben ist das größte Kunstwerk, das wir je erstellen werden. Rabbi Joseph Soloveitchik sprach in einem seiner frühesten Werke über Ish HaHalakha, die halachische Persönlichkeit und ihre Sehnsucht zu erschaffen, etwas Neues zu machen, Originelles. Gott sehnt sich auch danach, dass wir erschaffen und dadurch zu Seinem Partner im Werk der Erneuerung werden. „Das grundlegendste Prinzip von allem ist, dass der Mensch sich selbst erschaffen muss.“ Das ist Teshuva, ein Akt, sich neu zu machen. Auf Rosh HaShana treten wir von unserem Leben zurück wie ein Künstler, der von seiner Leinwand zurücktritt und sieht, was verändert werden muss, damit das Bild vollständig ist.

Achtens, wir sind, was wir sind, wegen derjenigen, die vor uns da waren. Unser Leben besteht nicht aus voneinander abgekoppelten Teilchen. Jeder von uns ist ein Buchstabe in Gottes Buch des Lebens. Aber einzelne Buchstaben haben, obwohl sie die Bedeutungsträger sind, keine Bedeutung, wenn sie für sich allein stehen. Um eine Bedeutung zu haben, müssen sie mit anderen Buchstaben verbunden werden, um Wörter, Sätze, Abschnitte, eine Geschichte zu bilden, und Jude zu sein, bedeutet, Teil der seltsamsten, ältesten, unerwartetesten und kontraproduktivsten Geschichte sein, die es je gegeben hat: die Geschichte eines winzigen Volkes, nie groß und oft heimatlos, das dennoch die größten Reiche überlebte, die die Welt je gekannt hat – die Ägypter, Assyrer, Babylonier, Griechen und Römer, die mittelalterlichen Reiche des Christentums und des Islam bis hin zum Dritten Reich und der Sowjetunion. Jedes hielt sich für unsterblich. Jedes ist verschwunden. Das jüdische Volk lebt noch. Also erinnern wir uns an Rosh HaShana und bitten Gott in den Gebeten, die wir sprechen oder den Melodien, in denen wir sie besingen, dass wir sie uns einprägen, die vor uns gekommen sind: Abraham und Isaak, Sarah, Hannah und Rachel, die Israeliten zu Zeiten des Mose und die Juden jeder Generation, von denen jeder ein lebendiges Vermächtnis hinterließ.

Und in einem der bewegendsten Verse des Mittelteils vom Musaf erinnern wir uns an die großen Worte, die Gott durch den Propheten Jeremia gesprochen hat: „Ich gedenke noch an die Zuneigung deiner Jugendzeit, an deine bräutliche Liebe, als du mir nachgezogen bist in der Wüste, in einem Land ohne Aussaat.“ (Jer. 2:2) Unsere Vorfahren mögen gesündigt haben, aber sie haben nie aufgehört, Gott zu folgen, obwohl der Weg hart und das Ziel fern war. Wir fangen nicht bei Null an. Wir haben Reichtum geerbt, nicht materiell, sondern spirituell. Wir sind Erben der Großartigkeit unserer Vorfahren.

Neuntens, wir sind auch Erben einer anderen Art von Größe, der der Thora selbst und ihrer hohen Ansprüche, ihrer anstrengenden Ideale, ihrer Vielzahl an Mitzwot, ihrer intellektuellen und existenziellen Herausforderungen. Das Judentum verlangt Großes von uns und indem wir danach handeln, macht es uns groß. Wir sind so groß wie die Ideale, für die wir leben, und die der Thora sind in der Tat sehr hoch. Wir sind, sagte Mose, Gottes Kinder (5. Mose 14:1). Wir sind aufgerufen, sagte Jesaja, Seine Zeugen zu sein, Seine Botschafter auf Erden (Jes 43:10). Immer wieder taten Juden Dinge, die für unmöglich gehalten wurden. Sie kämpften im Namen des Rechts gegen Gewalt. Sie kämpften gegen die Sklaverei. Sie zeigten, dass es möglich ist, eine Nation ohne Land zu sein, Einfluss ohne Macht zu haben, als Paria der Welt gebrandmarkt zu werden und dennoch nicht an Selbstachtung zu verlieren. Sie glaubten mit unerschütterlicher Überzeugung, dass sie eines Tages in ihr Land zurückkehren würden, und obwohl die Hoffnung absurd schien, geschah es. Ihr Königreich mag sehr begrenzt gewesen sein, aber die Juden zählten sich selbst zu Königen des unendlichen Raums. Das Judentum legt die Messlatte hoch, und obwohl wir immer wieder zu kurz kommen, erlauben uns Rosh HaShanah und Yom Kippur, von neuem zu beginnen, zu vergeben, gereinigt, unerschrocken, bereit für die nächste Herausforderung zu sein, [für] das nächste Jahr.

Und schließlich kommt der Klang des Schofars, der unseren Schutzwall durchdringt, ein wortloser Schrei in einer Religion der Worte, ein Klang, der durch den Atem erzeugt wird, als wollte er uns sagen, dass das alles Leben ist – ein bloßer Atem – und doch ist der Atem nichts anderes als der Geist Gottes in uns: „Dann formte Gott der Herr den Menschen aus dem Staub der Erde und hauchte ihm den Atem des Lebens in die Nase, und der Mensch wurde ein lebendiges Wesen“ (Gen 2:7). Wir sind Staub von der Erde, aber in uns ist der Atem Gottes. Und ob der Schofar unser Schrei zu Gott oder Gottes Schrei zu uns ist, irgendwie in dieser Tekia, Shevarim, Terua – dem Ruf, dem Schluchzen, dem Wehklagen – liegt das ganze Pathos der göttlich-menschlichen Begegnung, wenn Gott uns bittet, Sein Geschenk, das Leben selbst anzunehmen und daraus etwas Heiliges zu machen, indem wir handeln, um Gott und Sein Bild auf Erden, die Menschheit, zu ehren.

Denn wir besiegen den Tod, nicht indem wir für immer leben, sondern indem wir nach ewigen Werten leben, indem wir Taten tun und Segen schaffen, die nach uns weiterleben werden; und indem wir uns inmitten der Zeit an Gott binden, der über die Zeit hinaus lebt, „der König – der lebendige, ewige Gott“.

Das hebräische Verb lehitpalel, „beten“, bedeutet genauer gesagt „sich selbst beurteilen“. An Rosh HaShana stehen wir im Gericht. Wir wissen, was es heißt, bekannt zu sein. Und obwohl wir das Schlimmste über uns selbst wissen, sieht Gott das Beste; und wenn wir uns Ihm öffnen, gibt Er uns die Kraft, zu werden, was wir wirklich sind. Diejenigen, die vollständig in den Geist von Rosh HaShana eintreten, treten in das neue Jahr ein, indem sie geladen, energiegeladen, fokussiert, erneuert werden, in dem Wissen, dass Jude sein bedeutet, das Leben in der Gegenwart Gottes zu leben, das Leben um Gottes willen zu heiligen und das Leben anderer zu verbessern – denn wo wir Segen in andere Leben bringen, da lebt Gott.

Originalartikel: Rabbi Sacks, What Rosh Hashana Says to Us. 10 essential insights that go to the heart of Judaism.

Übersetzung und Links: faehrtensuche