Zielscheibe eines Terroristen: Teenager

Tanya Weiz, Überlebende eines Terroranschlags in Israel, erinnert sich:

Ich war 17, als der Bombenanschlag passierte – nur ein paar Jahre älter als viele der an diesem Montagabend [22. Mai 2017] ermordeten Kinder bei einem Ariana Grande Konzert in Manchester, England. Es war der 1. Juni 2001, und ich beschloss, mit drei meiner Freundinnen – Liana, Oksana und Tanya – in das Dolphinarium, eine Disco am Strand in Tel Aviv, zu gehen.

Wir sind fast an jedem Wochenende in diesen Club gegangen. Es war der Sommer vor unserem obligatorischen Armeedienst, und wir planten, ihn zusammen zu verbringen – mit Tanzen, Radfahren, Schwimmen und Sonnenbaden.

Mädchen hatten vor Mitternacht freien Eintritt in den Club – und da wir kein Geld hatten, beschlossen wir, früh zu gehen. Wir kauften eine Flasche billigen Wodka aus einem Supermarkt und hingen am Strand herum und nahmen ein paar Schlückchen, bis wir eine Menschenmenge sahen, die anfing, sich um 23:30 Uhr vor der Tür zu sammeln.

Tanya und ich stellten uns in der Reihe links von der Tür an; Oksana und Liana gingen nach rechts. So konnten wir alle schneller hineinkommen. Dann, um 23:44 Uhr, sprengte sich ein Hamas-Selbstmordattentäter am Eingang des Clubs in die Luft.

Alles verlief stumm. Bis heute weiß ich nicht, ob ich das Bewusstsein verloren habe. Alles, was ich weiß ist, dass ich in die Luft flog, und überall, wo ich hinsah, waren Leichen. Es schien, als ob jede einzelne Person in dieser Reihe ermordet worden war – außer ich selbst. Liana starb auf der Stelle. Insgesamt wurden 21 Personen getötet, 16 von ihnen waren Teenager.

Auf mir war Blut, aber ich fühlte keinen Schmerz und ich wusste nicht, zu wem das Blut gehörte. Mein einziger Gedanke war, dass ich mein Handy finden müsste, um meine Mutter anzurufen. Der Akku war verrutscht, und ich schaffte es, ihn irgendwie wieder in das Telefon zu befördern.

Auf einmal war mir sehr, sehr kalt. Ich legte meine Hand an meinen Hals und drei meiner Finger gingen tief in meinen Hals. Vier Stahlkugeln – die Art, wie sie sich in Flipperautomaten befinden – hatten meine Haut zerfetzt. Da fing ich an, in Panik zu geraten.

Irgendwie, ich weiß nicht wie, kroch ich auf meinem Bauch zu einem „Makolet“ (einer Bodega). Ich werde nie das tote Mädchen auf dem Boden in der Nähe des Ladens vergessen. Sie trug ein silbernes Kleid und hatte schulterlanges blondes Haar. Sie hatte keinen einzigen Kratzer. Es sah so aus, als hätte sie einen Herzinfarkt gehabt. Oder als wäre sie einfach vom Himmel gefallen.

Irgendwann kam ein Soldat und trug mich in den Makolet hinein. Erst dann habe ich angefangen, die Schreie zu hören und die Kameras auf meinem Gesicht zu bemerken. Lianas Zwillingsbruder tauchte am Schauplatz auf, verzweifelt, seine Schwester zu finden: „Wo ist Liana? Wo ist Liana?“ Alles, was ich tun konnte, war in Richtung der Körper zu zeigen. Viel später habe ich herausgefunden, dass meine Familie wusste, dass ich bei der Explosion dabei gewesen war, weil sie mich im Fernsehen, auf dem Bürgersteig liegend und um Hilfe bittend, gesehen hatten.

Ich war eine derjenigen, die Glück hatten. Ich kam als Erste ins Krankenhaus. Wenn ich mich dort nicht selbst herausgerobbt hätte, würde ich nicht mehr leben.

Ich lag sechs Tage im Koma. Meine Operation dauerte 12 Stunden. Ich hatte während des Anschlags Plateauschuhe getragen und diese wenigen Zentimeter mehr retteten mein Leben – sonst hätte das Metall mein Gehirn getroffen. Der Arzt gab meiner Mutter die Stahlkugeln zur Aufbewahrung.

Als ich aus dem Koma erwachte, konnte ich nicht sprechen: Ich hatte Schläuche in Hals, Nase und Mund. Meine Familie gab mir ein Stück Papier und einen Bleistift, um mit ihnen zu kommunizieren. Das Erste, was ich schrieb, war: „Wo ist Oksana? Wo ist Liana?“

Oksana überlebte, wurde aber schwer verletzt – sie hatte Nägel in ihrem Rücken, Magen, Arm und Bein. Tanya war irgendwie unverletzt, obwohl sie neben mir gestanden hatte.

Sie hielten Lianas Tod für weitere anderthalb Wochen geheim; sie sagten mir, sie hätte ein gebrochenes Bein. Lianas Zwillingsbruder besuchte mich jeden Tag im Krankenhaus, was ich komisch fand. Warum war er bei mir und nicht bei seiner Schwester? Die Realität der Situation traf mich in dem Moment, als ich herausfand, dass Liana gestorben war.

Für mich war ein Bombenanschlag etwas, was man in den Nachrichten sieht. Auch in Israel glaubst du nicht, dass es dir passieren kann. Bis heute sehe ich ihn in Teilen, einem Albtraum ähnlich.

Der Genesungsprozess war sehr, sehr hart. Der Arzt sagte, es gäbe kaum eine Chance, dass ich jemals wieder sprechen würde. Aber nach und nach habe ich wieder gelernt zu reden, zu essen.

Eine Sache, die geholfen hat, war die, dass andere Überlebende von anderen Bombenanschlägen – der Anschlag im Dolphinarium geschah auf dem Höhepunkt der Zweiten Intifada – kamen, um mich zu besuchen, mir Briefe zu schreiben und mich anzurufen. Ich erinnere mich an einen Mann, der zu Besuch kam mit nur einem Bein. Er sagte mir, dass es Zeit brauche, aber dass ich stärker werden würde.

Es ist so, als hätte ich zwei Leben. Eines vor dem Bombenanschlag und eines danach. Ich habe wirklich das Gefühl, als wäre ich an jenem Tag neu geboren. Jedes Mal, wenn es am 1. Juni eine „tekes“ (eine Gedenkzeremonie) gibt, wünschen wir Überlebenden, viele von uns gute Freunde, uns alles Gute zum Geburtstag.

Die Terroristen versuchen uns durch Angst zu lähmen und uns zu schwächen, aber bei mir haben sie das Gegenteil erreicht. Ich bin freundlicher, dankbarer, aufmerksamer auf die kleinsten Details des Lebens geworden und – ja, widerstandsfähiger.

Ich versuche mein Bestes, mich nicht auf den Horror des Anschlags zu konzentrieren, aber es vergeht nicht ein Tag, an dem ich nicht darüber nachdenke, und jedes Mal, wenn ich einen Zwischenfall in den Nachrichten sehe, fühlt er sich surreal an: Ich kann nicht glauben, dass ich da durchgegangen bin. Und dass ich jetzt eine der Menschen bin, die auf der Couch sitzen und die Nachrichten über Kinder sehe, die ermordet wurden, dieses Mal durch den Islamischen Staat.

Ich weiß, es gibt nichts, was ich im Augenblick sagen kann, damit die Überlebenden des Bombenanschlags von Manchester sich irgendwie besser fühlen. Das Schuldgefühl begann für mich am Tag der Explosion. Lianas Mutter zu sehen, ist besonders schmerzhaft. Ich sehe, wie sie mich anblickt und ich weiß, sie stellt sich ihre Tochter in meinem Alter vor. Aber ich würde den Überlebenden sagen, stark zu bleiben und sich auf ihre Genesung zu konzentrieren. Du musst sehr stark sein um zu genesen.

Heute lebe ich in Toronto und es gibt Menschen in meinem Leben, die nichts über meine Vergangenheit wissen. Sie sagen mir: „Wow, wie hast du in Israel gelebt? Es ist so gefährlich!“ Und sie haben keine Ahnung.

Ich habe eine riesige Narbe an meinem Hals. Ich arbeite im Einzelhandel in einem Einkaufszentrum und manchmal fragen mich Menschen deswegen. Ich sage nur: „Ich hatte einen Unfall.“ Die Narbe wird mich immer an diesen Tag erinnern. Immer. Aber es ist auch eine Narbe, die mich daran erinnert, dass ich lebe.

Originalartikel: A Terrorist’s Teenage Target von Tanya Weiz, 24. Mai 2017

Übersetzung: faehrtensuche

Tanya Weiz, eine von 132 Personen, die 2001 beim Anschlag im Dophinarium verletzt wurden, ist Mitglied von OneFamily, einer Unterstützergruppe für israelische Opfer des Terrorismus.

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